Hilferufe aus Mariupol

Mehrere Metropolen sind eingekreist: Russland trägt den Krieg tiefer in die Städte

Eine Explosion ist in einem Wohnhaus zu sehen, nachdem ein Panzer der russischen Armee in Mariupol geschossen hat.

Eine Explosion ist in einem Wohnhaus zu sehen, nachdem ein Panzer der russischen Armee in Mariupol geschossen hat.

Berlin/Kiew. Belagerung, Bombenhagel und kein rettender Ausweg: Die Hilferufe aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol – Heimat von mehr als 400.000 Menschen – werden dramatischer. Mit Besorgnis wird international beobachtet, wie Russland nach seinem stockend begonnenen Angriffskrieg nun die Kämpfe umso brutaler in bewohnte Gebiete trägt. Der Kriegsberichterstatter des russischen Staatssenders RT, Semjon Pegow, bezeichnet die Einschließung als „Mariupoler Kessel“.

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„Wie weit werden russische Truppen in der Ukraine gehen“, fragt der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, besorgt. „Das russische Militär hat in der Vergangenheit auf solchen Widerstand mit schweren Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht reagiert, darunter auch vorsätzliches Vorgehen gegen Zivilisten, die Ziel von willkürlichen und unverhältnismäßigen Angriffen waren.“

Nahe Kiew: Ukrainische Soldaten auf dem Weg ins Gefecht
09.03.2022, Ukraine, Irpin: Ein ukrainischer Soldat geht in Schussposition, während er herannahende Fahrzeuge in Irpin, am Stadtrand von Kiew, Ukraine, beobachtet. Ein russischer Luftangriff zerstörte am Mittwoch ein Entbindungskrankenhaus in der belagerten Hafenstadt Mariupol, während im Westen die Warnungen zunehmen, dass Moskaus Invasion eine brutalere und wahllosere Wendung nehmen wird. Foto: Vadim Ghirda/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Journalisten haben eine Einheit in der Nähe von Kiew begleitet und wurden dabei in ein Feuergefecht verwickelt.

Russland hat die Ukraine am 24. Februar angegriffen. Mehrere Metropolen sind jetzt von russischen Truppen eingekreist – Lebensmittel, Heizwärme und Elektrizität werden knapp. Zerstörungen durch Granatangriffe und einschlagende Raketen nehmen zu, die Zahl der Toten wächst.

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Militärexperte: Plan Putins ist nicht aufgegangen

„Der Plan Putins und seiner Generäle ist nicht aufgegangen. Das heißt, sie müssen jetzt anders agieren, um zum militärischen Erfolg zu gelangen“, sagt der Militärexperte Michael Karl, der sich als Forscher der Bundeswehr-Denkfabrik GIDS mit Russland und Osteuropa befasst. Er verweist auf die russische Kriegsführung in Syrien und sieht Ähnlichkeiten, wie die Auswahl der Ziele.

„Mariupol wird wahrscheinlich als Fanal dienen. Wir gehen davon aus, dass diese Stadt eine Art Exempel sein wird, wo mit Bombardements und Raketen- und Artilleriefeuer sowie einer Einkesselung die Zivilbevölkerung terrorisiert und die Stadt vernichtet werden“, warnt er.

+++ Alle News zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Nicht nur auf Aleppo, auch auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny kann man verweisen. Sie galt als eine der am schwersten zerstörten Städte weltweit, war aber auch Schauplatz von heftigsten Verlusten einer russische Panzertruppe, die unzureichend vorbereitet und mit Wehrpflichtigen eingesetzt wurde.

„Wenn Sie einen Infanteristen fragen: Das Schlimmste, was es für ihn gibt, dann ist es der Orts- und Häuserkampf. Hinter jeder Tür, hinter jeder Mauer lauert der Feind. Versteckte Ladungen und Hinterhalte. Wer da rein will, der muss hervorragend ausgebildet sein“, sagt Karl. „Aber der, der es verteidigt, der muss es nicht. Ihm reicht oftmals der Wille, die entsprechende Bewaffnung und nicht zuletzt die Ortskenntnis.“ Wenn es Plan der Russen sei, im Orts- und Häuserkampf die Großstädte zu erobern, „dann werden sie hohe Verluste erleiden“.

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Für die russischen Truppen ist die Hauptstadt Kiew weiter der eigentliche Schwerpunkt, sagte der Militärexperte. Wenn Kiew fallen sollte, werde der Strom Dnipro – der aus Belarus kommend durch die Ukraine ins Schwarze Meer fließt – als eine Art natürliche Grenze einen ganz wichtigen und nicht nur symbolischen, sondern auch geostrategischen Wert für die weitere Verteidigung der Ukraine haben.

Eine Frage ist, wie lange das sanktionierte Russland diesen Krieg moralisch und auch wirtschaftlich durchhalten kann. Die GIDS-Wissenschaftler gehen davon aus, dass Moskau zumindest das Geld ausgeht. In einer konservativen Gesamtrechnung koste der Krieg Russland ungefähr 15 Milliarden US-Dollar (knapp 14 Milliarden Euro) pro Tag. Je nach Rechnung habe Moskau noch ein finanzielles Polster für rund einen Monat. Droht nun ein Versuch, mit einem Kurswechsel eine schnelle Entscheidung zu erzwingen?

Verhandlungen mit der Ukraine: Putin spricht von „positiven Veränderungen“
HANDOUT - 11.03.2022, Russland, Moskau: Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte und von der Nachrichtenagentur AP zur Verfügung gestellte Handout-Bild zeigt Alexander Lukaschenko (l), Präsident von Belarus, und Wladimir Putin, Präsident von Russland, die sich im Rahmen eines Treffens die Hand geben. Foto: Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Bezüglich der Sanktionen sagte Putin, diese hätten Russland in den vergangenen Jahren nur stärker gemacht.

„Wir erinnern die russischen Behörden daran, dass gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte sowie das so genannte Flächenbombardement in Städten und Dörfern und andere Formen wahlloser Angriffe nach dem Völkerrecht verboten sind und Kriegsverbrechen darstellen können“, mahnte eine Sprecherin des Hochkommissariats für Menschenrechte. Sie bekräftigte, dass ein in Mariupol angegriffenes Gebäude eine funktionierende Geburtsklinik gewesen sei.

Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York am Freitag sagte die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, es lägen „glaubwürdige Berichte über den Einsatz von Streumunition durch russische Streitkräfte auch in besiedelten Gebieten“ vor. Diese seien nach dem humanitären Völkerrecht verboten und könnten zusammen mit dem Flächenbombardement von Gebieten Kriegsverbrechen darstellen.

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Blick richtet sich auf Kiew

Der Blick richtet sich nun auf die Lage um die Hauptstadt Kiew. In der dritten Kriegswoche hat die russische Armee begonnen, sich auf den erreichten Positionen festzusetzen. Die über Tage als Kolonne gestauten Panzer, Waffensysteme und Truppentransporter haben teils die Straßen verlassen und gedeckte Warteposition in Wäldern bezogen.

Das Verteidigungsministerium in Kiew geht dabei von Umgruppierungen und dem Heranführen von Reserven und Nachschub aus. Östlich von Kiew gab es zum Wochenende hin vereinzelte Versuche, die Verteidigung der Dreimillionenstadt auszutesten. Der russische Kräfteeinsatz reicht dabei bisher – wie schon vor dem Krieg von Beobachtern gemutmaßt – nicht aus, um entschiedene Angriffe an allen Frontabschnitten zu führen.

Im Nordosten und Osten bleibt die Lage der Städte Tschernhihiw, Sumy, Ochtyrka und der Millionenstadt Charkiw prekär. Sie sind ständigem Beschuss teils mit Grad-Raketenwerfern und Bombardements aus der Luft ausgesetzt. Nach russischen Angaben werden nur militärische Ziele angegriffen, doch werden täglich zivile Opfer und die Zerstörung von Wohnhäusern gemeldet. Ursache dafür könnte auch die Verteidigung der Städte durch die ukrainische Artillerie aus Wohngegenden heraus sein.

Landesweit versucht die russische Luftwaffe, die relative Luftüberlegenheit auszunutzen und den ukrainischen Gegner zu zermürben. Zusätzlich dazu werden vor allem in den Nächten weiter militärische Ziele auch im tiefen ukrainischen Hinterland, wie die Militärflugplätze Luzk und Iwano-Frankiwsk, mit Raketen angegriffen.

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Der Hauptkriegsschauplatz bleiben dabei die ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Täglich werden in den Berichten der Separatisten und des russischen Verteidigungsministeriums neue eroberte Ortschaften gemeldet. Entscheidende Erfolge konnten jedoch auch hier nicht erzielt werden.

Dem Anschein nach ist im übrigen Teil des Donbass das Ziel, den Hauptteil der ukrainischen Truppen durch eine Umfassungsbewegung von Isjum im Gebiet Charkiw bis ins Gebiet Saporischschja einzukesseln. Doch sind beide Stoßgruppen noch etwa 270 Straßenkilometer voneinander entfernt. Die bisher eingesetzten russischen Kräfte scheinen nicht ausreichend, um das Vorhaben zu verwirklichen.

RND/dpa

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