„Die Ukraine ist so stark wie nie“: Rückeroberung von Cherson hat begonnen
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Ukrainische Soldaten in einem von Russland zurückgelassenen Panzer (Symbolbild).
© Quelle: Getty Images
Im Süden der Ukraine haben die ukrainischen Streitkräfte eine großangelegte Gegenoffensive zur Rückeroberung der Region Cherson begonnen. Laut der russischen Militärbesatzung in Cherson habe es Angriffe auf die Orte Nowa Kamjanka und Beryslaw gegeben, die aber abgewehrt werden konnten. Zehntausende Soldaten soll die ukrainische Armee zur Rückeroberung zusammengezogen haben, man erwarte eine massive Gegenoffensive zur Rückeroberung von Cherson. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Seit Wochen hat die Ukraine eine Informationssperre für die Kämpfe im Süden verhängt.
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„Wenn die Ukraine in Cherson erfolgreich ist, wäre dies ein weiterer schwerer Rückschlag für Russland“, analysiert Militärexperte Nigel Gould-Davies vom Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS). „Der jüngste Erfolg weiter nördlich um Charkiw würde dann kein Einzelfall mehr sein und die Ukraine wäre auch an anderen Stellen entlang der langen Front überlegen“, so der Experte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die russischen Streitkräfte hätten aber gut ausgebaute Befestigungsanlagen rund um Cherson und sich tief in ihre Verteidigungsstellungen eingegraben. Gelingt die Rückeroberung, demonstriere das erneut die militärische Überlegenheit der Ukraine. „Wenn die Ukraine das Momentum der Offensive behalten und weitere Erfolge vorweisen kann, dann läuft Russlands Zeit noch schneller ab.“
Cherson fiel bereits im März in russische Hand
Kurz vor Beginn der Angriffe hatte sich die russische Militärverwaltung nach eigenen Angaben aus der Stadt Cherson zurückgezogen. Zuvor rief sie die Bevölkerung bereits auf, die Stadt zu verlassen und nach Russland umzusiedeln. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria schrieb, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt in einer SMS aufgefordert wurden, um 7 Uhr morgens aus der Stadt mit Bussen nach Russland zu flüchten. Das Internationale Rote Kreuz sprach von einer „katastrophalen humanitären Lage“ im Süden der Ukraine. Viele Menschen hätten keinen Zugang zu Wasser, so ein Sprecher zum RND, und in einigen Krankenhäusern fehlten Medikamente und medizinisches Material, um die Menschen zu behandeln.
RND-Reporter Can Merey berichtet nach russischen Luftangriffen aus Kiew
Russland hat bei seinen Luftangriffeen auf Kiew zivile Ziele ins Visier genommen. RND-Reporter Can Merey berichtet von den Zerstörungen in der Hauptstadt.
© Quelle: RND
Cherson fiel bereits im März, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs, als einzige ukrainische Regionalhauptstadt in russische Hand. In der gleichnamigen Region und den drei anderen von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebieten der Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin am Mittwoch den Kriegszustand verhängt. Ab Mitternacht soll das Dekret in Kraft treten.
Laut dem Russland-Experten Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck erhalte die russische Besatzungsmacht in der Ukraine damit mehr Befugnisse, die auch eine Zwangsrekrutierung in den besetzten Gebieten mit einschließt. „Unter Kriegsrecht muss sich jeder männliche Bewohner innerhalb einer bestimmten Altersspanne zum Kriegsdienst melden“, sagt Mangott dem RND. Eine solche Zwangsmobilmachung sei militärisch notwendig. „Nachdem die russischen Armeen stark ausgedünnt sind und viele Soldaten den Dienst quittiert haben, braucht Russland qualifiziertes Personal.“
Kaum Bewegung in der Ostukraine
Allerdings sei fraglich, so Mangott, wie es um die Kampfmoral und Loyalität der zwangsweise eingezogenen Soldaten bestellt ist. „Ukrainer einzuberufen und gegen das eigene Volk kämpfen zu lassen, ist ein enormes Risiko“, betont Mangott. Die Bewohner der vier ukrainischen Regionen könnten aber auch für Hilfsarbeiten eingezogen oder für Arbeiten in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Bereits vor Wochen waren Experten davon ausgegangen, dass die Annexion der Gebiete in erster Linie zur Vorbereitung einer Mobilmachung dient. Die Ukraine bezeichnete den Schritt als „Pseudolegitimierung für Plünderungen“ und erklärte, Putins Dekret ändere nichts.
Anders als im Süden gibt es in der Ostukraine kaum Bewegung. „Es ist eine sehr lange Front, sodass die Ukraine nicht überall auf einmal Fortschritte machen kann“, erklärt IISS-Militärexperte Gould-Davies. Von einem Stellungskrieg ohne Optionen will er aber nicht sprechen. „Wir haben in diesem Krieg bereits einige Überraschungen erlebt und wir sollten auch in der Ostukraine mit weiteren Überraschungen rechnen.“ Der Grund: Die Ausgangssituation der Ukraine sei gut. Ihre Motivation und Moral sei besser als die Russlands, die Truppen besser ausgebildet und auch bei der Führung, militärischen Planung und dem strategischen Denken sei die Ukraine Russland voraus. „In allen Kategorien, die den Erfolg eines Krieges bestimmen, war die Ukraine noch nie so stark wie jetzt.“