Was der Winter für den Krieg in der Ukraine bedeutet
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Panzer an der Grenze nahe Belogor, zwischen Russland und der Ukraine, im Februar 2022.
© Quelle: imago images/SNA
Selenskyj macht Druck. Der Krieg in der Ukraine werde noch sehr lange dauern, sollte er nicht bis zum Winter beendet werden, warnte der ukrainische Präsident die Staats- und Regierungschefs beim G7-Gipfel noch Ende Juni. Inzwischen glauben Militärexperten wie auch viele Politiker längst nicht mehr daran, dass der Krieg bis zum Winter vorbei sein wird. Denn solange beide Seiten weiter darauf setzen, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erzielen, gibt es auch keine Verhandlungen um eine diplomatische Lösung.
„Im Winter müssen wir mit ähnlichen Kampfhandlungen rechnen wie in den vergangenen acht Jahren im Donbass.“
Markus Reisner, Oberst des Generalstabsdienstes (Bundesheer Österreich)
Russland wird bis zum Winter alles daran setzen, nach Luhansk auch den Regierungsbezirk Donezk einzunehmen, so die Einschätzung von Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. „Nach der Eroberung des Oblasts Donezk, wird Russland in den Winter übergehen und sich neu aufstellen“, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Sie werden Nachschub heranschaffen, Munitionslager absichern und ihre Stellungen ausbauen.“ Die Ukraine wird laut Reisner dagegen damit beschäftigt sein, die eigene Bevölkerung über den Winter zu bringen und schwere Waffen und Munition aus dem Westen zu organisieren.
Ukraine will Gebiete zurückerobern: Gegenoffensive im Süden des Landes gestartet
Die Ukraine schlägt zurück – nach eigenen Angaben hat sie am Dienstag im Süden des Landes eine Gegenoffensive gestartet.
© Quelle: Reuters
Eine Großoffensive von Russland ist während des strengen Winters nach Einschätzung von Experten nicht zu erwarten. Aber kleine Angriffe wird es wohl immer wieder geben: „Im Winter müssen wir mit ähnlichen Kampfhandlungen rechnen wie in den vergangenen acht Jahren im Donbass“, meint Oberst Reisner, „nur mit einer höheren Intensität.“ Er rechnet mit einem intensiven Stellungskrieg, aber nicht mit größeren Vorstößen. „Denn der Winter wird mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der widrigen Bedingungen die großen Kampfhandlungen zum Erliegen bringen.“
Dabei ist der Winter eigentlich eine gute Zeit, um Krieg zu führen, sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). „Der Boden ist gefroren, es gibt weniger Vegetation und Angriffe sind einfacher.“ Erst wenn es im Frühjahr Tauwetter gibt, wird es schwieriger. Für diese Frühjahrsperiode gibt es sogar einen eigenen Begriff: „Rasputiza“, was mit „Zeit ohne Wege“ übersetzt werden kann. Große Gebiete und unbefestigte Straßen werden nach der Schneeschmelze nahezu unbefahrbar. Schon Napoleon und die Hitler stellte dieses Phänomen vor Probleme. „Den ukrainischen Schlamm im Frühjahr muss man gesehen haben, um es zu glauben“, berichtete ein Journalist aus Großbritannien 1944.
„Der Winter ist eine gute Zeit, um Krieg zu führen.“
Gustav Gressel,
Militärexperte beim European Council on Foreign Relations
Die Ukraine hat bei der Verteidigung des Landes im Winter einige Vorteile: „Die Wolkendecke hängt oft tief, sodass die russische Luftwaffe tiefer fliegen muss und die Ukraine leichter Flugzeuge abschießen kann“, erklärt Gressel. Die Kriegsführung ist im Winter für die Soldaten aufgrund von Kälte und Nässe aber eine größere Herausforderung. Das zeige sich bereits beim Einsatz der Waffen, wie Oberst Reisner erklärt: „Einige Waffensysteme funktionieren zum Beispiel nicht so präzise bei bei massivem Schneefall, Schneestürmen und Nässe.“ Hinzu komme, dass die Versorgung der Soldaten viel schwieriger sei. „Soldaten sind schnell durchnässt, es gibt Ausfälle durch Erfrierungen, und das schwächt die Einsatzbereitschaft und die Moral der Soldaten.“
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Putin schickt Strafgefangene an die Front
Russland trommelt jetzt in den Gefängnissen Männer für anonyme und riskante Einsätze im Donbass zusammen. Den Gefangenen wird Straffreiheit zugesagt – aber kein Ausweis und kein Rücktransport der Leiche im Todesfall. Schon Stalin griff einst zu solchen Methoden.
Wenn die russischen Truppen nicht zu sehr erschöpft sind und neue Soldaten zur Verfügung stehen, könnte Russland sich über den Winter auf weitere Offensiven vorbereiten. „Russland kalkuliert damit, dass die Ukraine nur wenige Waffen aus dem Westen erhält und ihr das militärische Material im Winter ausgeht“, so Militärexperte Gressel. „Wenn Russland die Offensive in den Frühling hineinzieht und nach dem Tauwetter noch einmal einen Angriff ansetzt, hätte es die Ukraine entscheidend geschlagen und den Krieg gewonnen.“
Auf der ukrainischen Seite sei die Kalkulation eine andere, so Gressel: „Wenn die Amerikaner jetzt ihre Waffenlieferungen beschleunigen, könnten sie die russischen Verluste so sehr in die Höhe treiben, dass Russland über den Winter eine Feuerpause einlegt.“ Mit den im Herbst neu dazugekommenen Zeitsoldaten würde Russland dann gerade die Kriegsverluste über den Winter auffangen können, sei jedoch für weitere Offensiven auf weitere Zeitsoldaten im Frühjahr angewiesen.
Reisner rechnet im Frühjahr mit neuen Offensiven Russlands, unter anderem im Süden der Ukraine: „Die russischen Truppen könnten dann bis nach Odessa vordringen und so die Ukraine zu einem Binnenstaat machen.“ Die Folgen wären enorm, denn dann würde sich mehr als 90 Prozent der Wertschöpfung der Ukraine in den von Russland besetzten Gebieten befinden. „Dann schwindet die Überlebensfähigkeit des Landes immer mehr“, fürchtet Reisner.
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