Kommunismus? Brandgefährlich.
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Wolf Biermann (80), Liedermacher, siedelte 1953 in die DDR über. 1976 wurde er ausgebürgert.
© Quelle: epd
Berlin. Die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ in St. Petersburg galt in der kommunistischen Weltreligion des 20. Jahrhunderts als Wendepunkt der Menschheitsgeschichte. Ja, ja, ein Wendepunkt! Bloß leider ganz anders als gedacht.
Diese Revolution, die im Grunde ein Putsch der Kampfgenossen um Lenin war, war weder groß noch sozialistisch. Noch fand sie im Oktober statt, aber dies ist nur eine kuriose Nebensache. Nach Marxens Theorie musste eine kommunistische Revolution stattfinden – aber ausschließlich in einem hochentwickelten kapitalistischen Land wie etwa Frankreich. Russland war ein feudalistisches Agrarland, die zaristische Monarchie hatte sich am Weltkrieg beteiligt. Dieser erste moderne Industrie-Krieg hatte das arme Russland ausgeblutet, so hatte Lenin mit den Kampfkadern seiner Geheimpartei ein leichtes Spiel. Seine radikale Minderheit, die sich clever „Bolschewiki“ (Mehrheit) nannte, stürzte 1917 mit schwachen Kräften den tödlich geschwächten russischen Koloss.
Die Tatsache, dass mein Vater Dagobert Biermann zwanzig Jahre später, wie so viele seiner Genossen, für seine kommunistische Überzeugung im Nazi-Gefängnis landete und im Konzentrationslager starb, machte die Religion unserer kommunistischen Märtyrer für mich sakrosankt. Die rassistischen Nazis hatten in ihrer kruden Ideologie niemals einen humanen Glutkern, den sie mit Komissstiefeln austreten konnten, sie glaubten nicht an die Göttin der Freiheit der Französischen Revolution. Der Kern der kommunistischen Idee, wie ich sie verstand, war nicht etwa Gleichmacherei, sondern einzig: gleiche Rechte für alle Menschen.
Ich stritt in der DDR mit den Betonköpfen der SED-Nomenklatura nicht um die kommunistische Idee selbst, sondern um ihre menschenverachtende, die totalitäre Praxis. Dabei glaubte ich, dass Demokratie und Kommunismus als spannungsreiche Einheit zusammen funktionieren können. Das erwies sich als Irrtum! Aber, Ironie des Schicksals: Ausgerechnet diese Illusion gab mir den Mut, mich in den Streit zu werfen.
Manch nachgeborenes Menschenkind kommt heute im Zorn über all die Widrigkeiten unserer kapitalistischen Welt auf die kindliche Idee: Die Menschheit sollte noch mal einen neuen Versuch unternehmen, die kommunistische Utopie zu verwirklichen. Das halte ich nicht nur für falsch, sondern für brandgefährlich. Warum?
„Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln.“ Der Philosoph Sir Karl Popper prägte diese Einsicht über die kommunistische Hybris in seiner Schrift „Das Elend des Historizismus“. Mir dämmerte diese schreckliche Wahrheit erst spät, in meinem siebten West-Jahr, Anfang der 80er-Jahre. Seitdem akzeptiere ich Poppers Verdikt.
Ich muss seinem Urteil aber in einem wichtigen Punkt widersprechen: Jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen, ist eine Anmaßung, gewiss, aber er verführt uns nicht, nein, er zwingt uns! – er zwingt jeden Menschheitsretter, unsere Erde in eine Hölle zu verwandeln. Dieser kleine Unterschied ist der große!
Ja, wenn auf dem Weg zum Paradies der Irrweg in die Hölle nur eine mögliche Verführung wäre, dann könnte man vielleicht tapfer und klug genug widerstehen! Aber die Geschichte seit der Oktoberrevolution 1917 zeigt: Es halfen weder Aufrichtigkeit noch Mut. Grips genug und Tapferkeit hatten viele Kommunisten auf dem Weg ins gelobte Land des Kommunismus. Theoretiker wie der redliche Friedrich Engels, der geniale Karl Marx, die radikale Rosa Luxemburg, der schlaue Iljitsch Lenin und der kluge Leo Trotzki – sie alle sind mir ein lehrreiches Beispiel.
Aber egal, ob dieser oder jener humanistisch inspirierte Revolutionär es gut meinte, oder ob er dann ein so mörderischer Kommunist wie Stalin oder Feliks Dserschinski oder Ulbricht oder Mielke wurde und die praktische Schmutzarbeit machte – der Anspruch darauf, eine ideale Lösung des menschlichen Zusammenlebens zu erzwingen, zwingt sie alle in die totalitäre Diktatur. Die Protagonisten werden eliminiert oder sie eliminieren, sie morden und werden ermordet.
Diese Missetaten, die Verbrechen meiner einstmals eigenen Leute, blieben und bleiben mein größter Kummer und mein tiefster Zorn. Es wird sicher niemals ein Gemeinwesen geben, das alle Menschen glücklich macht. Aber die unvollkommenste Demokratie ist unendlich viel besser als die beste Diktatur.
Von Wolf Biermann/RND