Klagen gegen EU-Rechtsstaatsklausel könnten Auszahlung von Corona-Geldern verzögern
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Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán (li.) und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.
© Quelle: imago images/ZUMA Wire
Brüssel. Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU wächst sich zu einer Machtprobe auf mehreren Ebenen aus. Zwar ist es der EU Ende vergangenen Jahres in letzter Minute gelungen, ihren Haushalt und den Corona-Hilfsfonds in einer Gesamthöhe von mehr als 1,8 Billionen Euro auf den Weg zu bringen. Doch nun zeichnet sich eine langwierige juristische Auseinandersetzung um die neue EU-Rechtsstaatsklausel ab, der die Auszahlung der Corona-Hilfsgelder verzögern könnte. Ungarn und Polen legten am Donnerstag Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen den Rechtsstaatsmechanismus ein. Zahlreiche Europaparlamentarier drohten daraufhin ihrerseits mit einer Klage gegen die EU-Kommission.
Die Regierungen in Warschau und Budapest verlangen, dass die obersten EU-Richter prüfen, ob der neue Mechanismus zur Kürzung von EU-Geldern bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen zulässig ist. Sie fürchten, dass der Mechanismus darauf abzielt, ihnen wegen umstrittener politischer Projekte EU-Mittel zu kürzen.
Kompromiss erst Ende 2020 erreicht
Beide Länder bekommen hohe Milliardenbeträge aus dem EU-Haushalt. Gegen beide Staaten läuft aber zugleich ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten. Polen wird wegen des Umbaus seines Justizsystems kritisiert. Gegen Ungarns Regierung erheben Europaparlament und EU-Kommission seit Jahren Vorwürfe, gegen die Medien im Land vorzugehen und Kritiker zu drangsalieren.
Die Klage der beiden Regierungen geht auf einen Kompromiss zurück, der unter Vermittlung der Bundesregierung Ende 2020 von allen 27 Mitgliedsstaaten akzeptiert wurde. Demnach ist es ausdrücklich möglich, dass der EuGH den neuen Mechanismus überprüft.
Unklar ist, wann das geschieht. Der EuGH kann selbst entscheiden, ob er die Klage in einem Eilverfahren behandeln will. Bis zu einem Urteil würden dann wahrscheinlich mehrere Monate vergehen, nicht aber wie bei einem herkömmlichen Verfahren anderthalb Jahre oder noch länger. Es wurde erwartet, dass das Europaparlament das Gericht in Kürze dazu auffordern wird, sich der Sache so schnell wie möglich anzunehmen.
Europaabgeordnete erhöhten auch den Druck auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, den Mechanismus schon vor einem EuGH-Urteil anzuwenden. Die Vizepräsidentin des Parlaments, Katarina Barley (SPD), sprach von „einer verkehrten Welt”. Statt gegen die Abschaffung des Rechtsstaats in Polen und Ungarn vorzugehen, „wartet die EU-Kommission freiwillig die Klagen beider Regierungen ab”, sagte die frühere deutsche Justizministerin. „Jeder Tag, an dem die EU-Kommission den Rechtsstaatsmechanismus nicht anwendet, fügt der Demokratie in Europa irreparablen Schaden zu.”
Druck auf von der Leyen steigt
Ähnlich wie Barley kündigte auch der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund eine Klage des Europaparlaments gegen die Kommission an, sollte von der Leyens Behörde weiter untätig bleiben. „Es kann nicht sein, dass geltendes EU-Recht einfach auf Eis gelegt wird, während Mitgliedsstaaten dagegen klagen.” Wenn die Kommission geltendes Recht nicht umsetze, „haben wir auch in der EU ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit”, so Freund.
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Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Ende vergangenen Jahres erklärt, sie wolle das Urteil des EuGH abwarten, bevor der neue Rechtsstaatsmechanismus angewendet werde. Es werde allerdings „kein einziger Fall verloren” gehen, sagte von der Leyen.
Der Grünen-Abgeordnete Freund sagte, Verzögerungen spielten nur dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in die Hände. Orbán wolle sich in ungefähr anderthalb Jahren zur Wiederwahl stellen und deswegen ein Verfahren gegen sein Land nach dem neuen Rechtsstaatsmechanismus unbedingt abwenden.
Das Vorgehen der EU-Kommission lässt sich aber auch mit der Sorge erklären, dass Ungarn und Polen möglicherweise die für den Sommer geplante Auszahlung der Corona-Hilfsgelder verzögern könnten. Das Hilfspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro müssen alle Parlamente der 27 EU-Mitgliedsstaaten ratifizieren, bevor das Geld fließen kann.