Kinder und Corona: Wie die Infektionszahlen in einem Thüringer Kreis explodieren konnten

Kaiser Barbarossa thront unterhalb des Kyffhäuserdenkmals in Thüringen. Im Kreis liegt die Inzidenz bei Zehn- bis 19-Jährigen bei mehr als 1000.

Kaiser Barbarossa thront unterhalb des Kyffhäuserdenkmals in Thüringen. Im Kreis liegt die Inzidenz bei Zehn- bis 19-Jährigen bei mehr als 1000.

Berlin. Alles halb so wild. Sie stabilisiere sich, die Lage, sagt Jörg Dötsch, Präsident der deutschen Kindermediziner, wenn er über Corona bei jungen Menschen spricht. Die Zahlen geben ihm recht: Die Sieben-Tage-Inzidenz ist bei den Zehn- bis 14-Jährigen zwar höher als in allen anderen Gruppen, sinkt aber auch dort.

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Und überhaupt: „Wir wissen seit einigen Monaten, dass die Klinikaufnahmen für die Beurteilung wichtiger sind als die Infektionen“, sagt Dötsch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Und die sind bei Kindern und Jugendlichen sehr gering.“

Die Infektionszahlen seien nicht mehr das Entscheidende. Ein aktueller Fall aus Thüringen jedoch zeigt eindrücklich, warum diese Pandemie längst nicht vorbei ist. Und wie schnell das Virus politische Nachlässigkeiten bestraft.

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Inzidenz bei Jugendlichen höher als 1000

Es ist Mitte September, eine junge Fußballmannschaft sitzt im Norden Thüringens nach dem Training in der Kabine. Einer ist infiziert. Ein paar Tage später sind es fast alle. Zur Schule gehen sie trotzdem. „Das war unser erstes Superspreading-Ereignis“, sagt Kreisdirektor Ulrich Thiele dem RND vier Wochen danach. Das erste von dreien. Heute liegt die Inzidenz bei Jugendlichen zwischen zehn und 19 Jahren bei mehr als 1000, mehr Details will das Robert Koch-Institut nicht verraten.

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Auf das Fußballtraining folgten die Geburtstagsfeier einer Großfamilie und eine Klassenfahrt. Drei Corona-Ausbrüche, die den Kreis ins Chaos stürzten: „Wir hatten in der vergangenen Woche zwischen 150 und 180 infizierte Kinder“, sagt Thiele.

Lauterbach: Durchseuchung der Kinder eine große Gefahr

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist von den hohen Inzidenzen „nicht überrascht“, wie er dem RND sagt. „Wir sehen das Gleiche in England und in einigen US-Bundesstaaten und haben dies auch schon in Israel gesehen. Wenn es zu Lockerungen kommt, rechne ich mit noch höheren Inzidenzen bei Kindern“, sagt der Epidemiologe.

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„Es gibt in England Grafschaften, wo die Inzidenz bei Kindern auf 2500 gestiegen ist. Solche hohen Inzidenzen müssen wir in Deutschland vermeiden“, fordert Lauterbach. Die Durchseuchung der Kinder sei nach wie vor eine große Gefahr.

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Krisenstab handelt selbst - nicht das Land

Thieles Krisenstab hat das Ausmaß schon ein paar Tage nach dem Fußballtraining antizipiert und Notfallpläne vorbereitet. Der Krisenstab hatte beschlossen, ganze Klassen in Quarantäne zu schicken – nicht mehr nur die Sitznachbarn. Ist das nicht eigentlich Sache des Landes? Ja, weiß Thiele, „aber das war unsere Interpretation der Rechtslage“. Durchaus gewagt. Bislang habe das Kultusministerium nicht widersprochen.

Überhaupt ist dies die Geschichte einer Region, die im Kampf gegen Corona alleingelassen wird. Corona-Tests für Schulen stellt das Kultusministerium seit Wochen nicht mehr bereit. Schülerinnen und Schüler dürften durch „anlasslose Tests“ nicht mehr belastet werden als andere, heißt es in der Begründung der Landesregierung. Nun, mit Anlass fehlen die Tests dennoch.

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Keine Notfallpläne in der Schublade

Wenige Tage nach dem Fußballtraining hat der Kreis selbst Schnelltests für alle „Hotspotschulen“, wie sie Ulrich Thiele nennt, besorgt: „Mittlerweile gibt es hier fast nur noch Hotspotschulen.“ Das Maßnahmenpaket des Krisenstabs – strenge Maskenpflicht an Schulen, verpflichtende Schnelltests, Schulsport nur im Freien, kein Singen – kann erst ab der nächsten Woche greifen. „Natürlich wäre es schön gewesen, wenn Notfallpläne für ganz Deutschland in der Schublade gelegen hätten“, sagt Thiele. Lagen sie aber nicht.

Lauterbach sieht es ähnlich: „Kinder müssen dreimal in der Woche getestet werden und bei einem positiven Test müssen alle Kinder in der Klasse fünf Tage infolge getestet werden. Nur so kann der Unterricht sicher aufrechterhalten werden, ohne dass die ganze Klasse in Quarantäne muss“, sagt er.

Vom Vorgehen in Thüringen ist das weit entfernt. „Mit dem Kenntnisstand von heute muss man sagen: Vielleicht hätte man Schulen mal für eine Woche schließen sollen“, sagt Thiele, das sei aber keine Kritik, sondern „nur eine Frage, die man medizinisch hätte diskutieren können“.

Gewerkschaftlerin attackiert Kultusministerkonferenz

Deutlicher ist da Anja Bensinger-Stolze, die bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft für Schulen zuständig ist. „Leider hat es die Kultusministerkonferenz zum wiederholten Mal versäumt, den Schulen die notwendige Rückendeckung zu geben“, sagt sie dem RND.

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„Die Schulen sollen auch in der kalten Jahreszeit geöffnet bleiben“, fordert Bensinger-Stolze. Dafür aber brauche es ein echtes Maßnahmenbündel und eine „akribische Umsetzung“. Im Kyffhäuserkreis fehlte genau das. Und es ist kein Einzelfall: In Thüringen melden drei weitere Kreise bei Jugendlichen eine Inzidenz von mehr als 500, in Bayern und Brandenburg finden sich auch Beispiele. Brisant sind die Fälle auch mit Blick auf die Impfquote: 60 Prozent der Menschen in Thüringen sind vor dem Virus geschützt, 40 Prozent nicht.

Der Mediziner Jörg Dötsch empfiehlt die Impfung für über Zwölfjährige inzwischen „allgemein und uneingeschränkt, ich werbe dafür so dringlich wie bei Erwachsenen.“ Die Risiko-Nutzen-Abwägung sei mit Blick auf die Daten von zehn Millionen Kindern und Jugendlichen eindeutig. Damit die lokalen Schulausbrüche nicht zum Trend in ganz Deutschland werden, brauche es einen „klugen Mittelweg“, meint Dötsch. „Wir müssen immer Dinge gegeneinander abwägen.“

Lauterbach warnt vor Folgen von Long Covid bei Kindern

Sicherheit gebe es mit Blick auf mögliche Corona-Langzeitfolgen bei Kindern noch nicht. „Die Daten zeigen bisher aber: Je jünger die Kinder sind, desto unwahrscheinlicher ist Long Covid“, sagt Dötsch. Lauterbach hingegen fürchtet „große Probleme“ mit Langzeitfolgen bei Kindern. „Laut Studien haben zwischen 2 und 4 Prozent der Kinder noch ein halbes Jahr nach ihrer Erkrankung noch Symptome“, sagt der Politiker. Angesichts dieser Gefahr sei es „fatal, dass Kinder dafür kämpfen müssen, dass ihr Covid-Krankheitsrisiko ernst genommen wird“.

Depressiv, antriebslos und müde – sind Herbst und Winter schuld?

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Dötsch sagt, Long Covid sei als Phänomen schwer zu definieren und abzugrenzen – etwa von einer Depression. „Auf der anderen Seite ist eindeutig, dass depressive Störungen durch die geschlossenen Schulen häufiger vorkamen. Es ist wichtiger, den Kindern soziale Teilhabe zu ermöglichen, als Infektionen um jeden Preis zu vermeiden“, sagt Dötsch. „Es lohnt sich in der Abwägung, das Restrisiko auf Langzeitfolgen einzugehen.“

„Wir müssen vorsichtig bleiben“

Im Moment sei nicht abzusehen, wohin sich das Infektionsgeschehen in den kommenden Monaten entwickelt, sagt Dötsch. „Die Hotspots zeigen uns: Wir müssen schon vorsichtig bleiben. Wir sollten jetzt nicht darüber nachdenken, die Maskenpflicht abzuschaffen.“

Schulschließungen hält er auch dann für das falsche Mittel, „wenn die Inzidenzen regional sehr hoch sind“. Er setzt auf kluge Prävention. „Wir sollten in dieser unklaren Lage Schritt für Schritt vorgehen und nicht zu viel auf einmal ändern – sonst wissen wir nicht, was welchen Effekt hat. Dieses Prinzip ist in der Medizin sehr wichtig, und es gilt in der aktuellen Phase der Pandemie ganz besonders.“

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