2,2 Milliarden Euro Defizit

Kassen zur Pflegeversicherung: „Lage ist noch dramatischer, als sie auf den ersten Blick erscheint“

Eine Pflegerin hält im Altenheim die Hand einer Bewohnerin.

Eine Pflegerin hält im Altenheim die Hand einer Bewohnerin.

Berlin. Die gesetzlichen Krankenkassen sind zugleich auch die Pflegekassen und damit für die Versorgung von rund fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zuständig. Gernot Kiefer ist im Vorstand des Kassen-Spitzenverbandes für die Pflege verantwortlich.

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Herr Kiefer, es mangelte im abgelaufenen Jahr nicht an Warnungen, dass der Pflegeversicherung das Geld ausgeht – auch von Ihnen. Bisher ist ein Kollaps ausgeblieben. Ist die Lage also gar nicht so dramatisch?

Ich hätte mir wirklich gewünscht, in diesem Punkt falsch zu liegen. Aber leider ist dem nicht so. Zwar sind die Beitragseinnahmen der Pflegeversicherung höher als bisher angenommen, aber gleichzeitig sind auch die Ausgaben kräftiger gestiegen. Wir gehen davon aus, dass das Defizit zum Jahresende 2022 rund 2,2 Milliarden Euro betragen wird. Eine Anhebung des Beitragssatzes zum 1. Januar 2023 um 0,3 Prozentpunkte wäre dringend notwendig gewesen, um das Defizit im nächsten Jahr zu verhindern. Die Ampelkoalition hat jedoch entschieden, nicht zu entscheiden. Eine solide und nachhaltige Politik sieht anders aus.

Aber es gibt ja noch eine Rücklage.

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Die Liquiditätsreserve dürfte am Jahresende bei rund 5,7 Milliarden Euro liegen und damit 1,2 Milliarden unter der gesetzlich vorgesehenen Höhe. Dabei muss berücksichtigt werden, dass in diesen Finanzmitteln schon ein Darlehen des Bundes von einer Milliarde Euro steckt. Das ist also fremdes Geld – und es muss bis Ende 2023 an den Finanzminister zurückgezahlt werden. Die Lage ist also noch dramatischer, als es auf den ersten Blick erscheint.

Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbands.

Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbands.

Wie lange reicht denn das Geld jetzt noch?

Durch bestimmte Finanztechniken, man könnte das auch Zahlenakrobatik nennen, wird man das Problem sicherlich noch einige Monate vor sich her schieben können. Nach unseren Prognosen sind aber spätestens im zweiten Halbjahr die Finanzreserven massiv in den Keller gefahren. Je länger die politischen Entscheidungen ausbleiben, desto größer werden die Probleme. So kann man nicht ewig weitermachen, dann fährt die Pflegeversicherung gegen die Wand. Der Beitragssprung, der auf die Versicherten und Arbeitgebenden zukommt, wird immer größer, je länger nicht gehandelt wird.

Lauterbach hat für das Frühjahr eine Reform angekündigt. Was muss er aus Ihrer Sicht tun?

Zunächst muss das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden, das ab August 2023 eine stärkere Entlastung von Familien mit zwei oder mehr Kindern vorschreibt. Bisher liegen noch nicht einmal Eckpunkte einer Reform vor, was längst hätte geschehen müssen. Denn es ist bekannt, dass ein halbes Jahr Vorlauf notwendig ist, um einen nach der Kinderzahl gestaffelten Beitragssatz bei den Pflegekassen, aber auch beim Beitragseinzug durch die Arbeitgebenden, technisch realisieren zu können. Eine Regierung kann es sich kaum leisten, die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts einfach zu ignorieren.

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Wie sollte die Staffelung aussehen?

Es gibt ein Modell, bei dem der Beitragssatz degressiv mit der Kinderzahl sinkt, der Abstand wird also immer kleiner. Bei zwei Kindern wären das statt heute 3,05 Prozent dann 2,75 Prozent, bei drei Kindern 2,5 Prozent und bei vier Kindern 2,3 Prozent und so weiter. Das würde Beitragsausfälle von knapp 3 Milliarden Euro verursachen. Sicherlich könnte die Differenzierung etwas kleiner ausfallen, sodass die Ausfälle auf 2 Milliarden Euro gedrückt werden könnten. Aber weniger dürfte das Urteil kaum zulassen.

Wer soll das bezahlen?

Es handelt sich um eine familienpolitische Leistung, die aus Steuermitteln bezahlt werden sollte. Aber die Ampelkoalition hat erkennbar nicht die Absicht, dafür Geld aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung zu stellen. Deshalb erwarte ich, dass es innerhalb der Pflegeversicherung eine Umverteilung geben wird.

Das bedeutet?

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Die Kinderlosen werden deutlich mehr zahlen müssen. Dazu kommt dann noch die ohnehin nötige generelle finanzielle Sanierung zum Ausgleich des Milliardendefizits. Und eigentlich wären auch noch Leistungsverbesserungen nötig, denn wohl niemand wird sagen, dass das heutige Leistungsspektrum ideal ist. Es wird für den Minister ein Ritt auf der Rasierklinge, das alles umzusetzen und den Menschen die neuen Belastungen dann auch noch zu vermitteln. Meines Erachtens geht das nur, wenn der Staat auch kräftig Steuermittel für versicherungsfremde Leistungen bereitstellt, zum Beispiel 3,6 Milliarden Euro zur Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige.

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Sie sprachen von weiteren Verbesserungen der Leistungen. Welche meinen Sie konkret?

Die noch von der großen Koalition beschlossene Entlastung bei den Eigenanteilen für Heimbewohner wirkt, aber sie wurde teilweise schon wieder durch die stark gestiegenen Kosten aufgefressen. Schließlich gehen die überfälligen Lohnsteigerungen in der Pflege voll zulasten der Pflegebedürftigen. Zwar wird auch das gerade reformierte Wohngeld vielen Heimbewohnern zugutekommen. Doch unterm Strich ist die Belastung zu hoch. Wer kann schon über 2000 Euro pro Monat mit einer normalen Rente bezahlen? Es ist dringend nötig, dass die Politik an die Frage der Eigenbeteiligung noch einmal rangeht.

Und bei der Pflege zu Hause?

Die Pflegebedürftigen, die zum Beispiel noch bei ihren Familien leben, können mit dem Geld der Pflegeversicherung immer weniger Leistungen finanzieren, weil sehr viele Jahre eine Anpassung an die tatsächliche Kostenentwicklung unterblieben ist. Der nächste Erhöhungsschritt steht 2024 an, und angesichts der Preisentwicklung müsste es einen erheblichen Zuwachs geben. Da bin ich mal gespannt, wie da die Politik entscheidet. Daneben hat die Ampelkoalition in Aussicht gestellt, die Leistungen über ein sogenanntes Entlastungsbudget flexibel zu gestalten. Ich habe allerdings den Eindruck, den großen Reformplan für die Pflegeversicherung muss die Politik erst noch schmieden.

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