Über den Atlantik auf die Kanaren – immer mehr Migranten erreichen Inselgruppe

Seenotretter vom Rettungsschiff “Alan Kurdi” nehmen Migranten von einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer in ihre Obhut. (Symbolbild)

Seenotretter vom Rettungsschiff “Alan Kurdi” nehmen Migranten von einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer in ihre Obhut. (Symbolbild)

Fuerteventura. Hawa Diabaté wagte mit ihrer kleinen Tochter die gefährliche Flucht per Boot aus ihrem Heimatstaat, der Elfenbeinküste, nach Europa. Die zweijährige Noura sei die Einzige unter den Migranten gewesen, die auf der Fahrt nicht geweint habe, sagt Diabaté. Anders als die 60 Erwachsenen an Bord war sie sich nicht der Risiken dieser Reise in einem überfüllten Gummiboot auf dem offenen Atlantik bewusst. Nach Stunden auf dem Ozean war es schließlich geschafft: Spaniens maritimer Rettungsdienst brachte die Flüchtlinge in Sicherheit, auf eine der Kanarischen Inseln.

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Diabaté und Noura zählen zu der wachsenden Zahl von Migranten, die versuchen, die spanische Inselgruppe nahe Westafrika auf der gefährlichen Atlantik-Route zu erreichen. Ungefähr 4000 Menschen haben bislang in diesem Jahr die Reise nach Europa auf diesem Weg geschafft, mehr als 250 sind ums Leben gekommen oder vermisst. Journalisten der Nachrichtenagentur AP haben sich eine Woche lang auf den Kanaren aufgehalten, und allein in dieser Zeit wurden mindestens 20 Menschen tot geborgen.

EU-Gelder für Marokko – Spanien alarmiert

Die Europäische Union hatte Marokko 2019 finanziell unterstützt, um Migranten am Versuch zu hindern, den Süden Spaniens über das Mittelmeer zu erreichen. Mit Erfolg: Die Zahl der Ankömmlinge auf dem spanischen Festland ist um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Aber die Zahl auf den Kanaren ist um 550 Prozent gestiegen. Im August allein kamen mehr als 850 Menschen auf dem Atlantik-Weg auf den Inseln an, wie AP anhand von Statistiken des spanischen Innenministeriums und anderer Quellen errechnet hat.

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Noch ist man zwar weit entfernt von den Zahlen von 2006, als 30.000 Menschen die Inseln erreicht hatten. Doch die Kanaren verzeichneten in diesem Jahr bereits die höchste Zahl von eintreffenden Migranten seit mehr als zehn Jahren. Damals war der Zustrom über den Atlantik durch Abmachungen mit westafrikanischen Ländern auf ein paar Hundert Menschen pro Jahr begrenzt worden.

Die neue Entwicklung hat Spaniens Regierung alarmiert. So führte die erste Auslandsreise von Ministerpräsident Pedro Sánchez nach Aufhebung der Restriktionen im Zuge der Corona-Pandemie nach Mauretanien, wo viele der Migranten ein Boot besteigen. Und unlängst hat Spanien sechs westafrikanischen Ländern Ausrüstung zur Grenzüberwachung im Gesamtwert von 1,5 Millionen Euro geschenkt.

UN: Menschen, die es schaffen, nur ein Bruchteil

Menschenrechtsgruppen glauben derweil, dass diejenigen, die die Kanaren erreichen, nur einen Bruchteil der Menschen darstellen, die sich von Westafrika aus auf die Bootsreise gemacht haben. “Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs”, sagt Sophie Muller, die das UN-Flüchtlingshochkommissariat in Spanien vertritt, mit Blick auf die gefährlichen Atlantik-Routen.

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Es kann zwischen einem und zehn Tagen dauern, um die spanischen Inseln zu erreichen. Der mit 1600 Kilometern am weitesten entfernte Ausgangspunkt, der dieses Jahr registriert wurde, ist Barra in Gambia, der mit 100 Kilometern am nächsten gelegene Tarfaya in Marokko. Es kommt häufig vor, dass Migranten nach nur wenigen Tagen auf ihrem Weg Nahrung, Wasser und Treibstoff ausgehen.

Am 19. August etwa wurde 148 Kilometer von Gran Canaria entfernt ein Holzboot mit 15 leblosen Menschen aus Mali entdeckt und in den Hafen geschleppt. Am Abend, bei Einsetzen der Dunkelheit, hievten Arbeiter die Leichen mit einem Kran aufs Land. Weniger als 24 Stunden später wurden zwölf Menschen auf einem anderen Boot gerettet und auf die Insel gebracht, einer von ihnen starb wenig später. Vier Migranten hatten bereits auf der Reise ihr Leben verloren, vor den Augen ihrer Gefährten. “Sie haben fast kein Wort gesprochen”, beschreibt José Antonio Rodriguez, Leiter der Soforteinsatzteams des Roten Kreuzes in der Region, den Zustand der Überlebenden bei ihrer Ankunft. “Sie standen unter Schock.”

Spaniens Innenministerium wollte keine Angaben über die Nationalität jüngster Ankömmlinge auf den Inseln machen, mit Hinweis darauf, dass dies Auswirkungen auf die Beziehungen zu den Herkunftsländern haben könnte. Aber nach UN-Schätzungen stammen etwa 35 Prozent der Migranten, die per Boot eintreffen, aus Mali – jenem Land, das sich im Krieg mit islamischen Extremisten befindet und wo kürzlich Präsident Ibrahim Boubacar Keïta bei einem Militärputsch gestürzt wurde. Ungefähr 20 Prozent der Eintreffenden sind Frauen und 12 Prozent sind minderjährig, wie Muller vom UN-Flüchtlingshochkommissariat sagt.

Migranten sitzen auf Kanaren fest

Kassim Diallo flüchtete aus Mali, nachdem sein Vater bei einem Islamisten-Angriff auf einen Militärstützpunkt in der Nähe seines Heimatdorfes getötet worden war. Am 29. Februar bestieg er in Laajune in der Westsahara ein Gummiboot, zusammen mit 35 anderen Männern, Frauen und Kindern. Nach fast 20 Stunden auf dem Wasser wurde die Gruppe gerettet und nach Fuerteventura gebracht.

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Seitdem sitzt Diallo auf den Kanaren fest. Flüge zur Zwangsrückkehr nach Mauretanien sind zwar wegen Corona noch auf Eis gelegt. Aber die Madrider Regierung lässt die meisten Migranten, die neu auf den Inseln ankommen oder in der jüngeren Vergangenheit eingetroffen sind, auch nicht auf Spaniens Festland.

Txema Santana, ein Vertreter der gemeinnützigen Spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe, prangert das an: “Leute daran zu hindern, die Kanaren zu verlassen, hat die Inseln zu einem Freiluftgefängnis gemacht.”

RND/dpa

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