Joe Biden – der Präsident aus der Asche
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Wilmington: Joe Biden, Gewählter Präsident (President-elect) der USA kommt an, um im The Queen Theater zu sprechen.
© Quelle: Andrew Harnik/AP/dpa
Washington. Die Tribüne ist bereitet. Seit Wochen haben Handwerker an der Westseite des Kapitols gehämmert und geschraubt und eine Art Freilufttheater mit Platz für 1600 Ehrengäste errichtet. Weitere 200.000 geladene Besucher fänden theoretisch auf der angrenzenden Wiese Platz. Mehr als eine Million Schaulustige drängen sich zudem traditionell weiter unten auf der National Mall bis hin zum Lincoln Memorial, wenn vor der eindrucksvollen Kulisse des weißen Kuppelbaus ihr nächster Präsident vereidigt wird.
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Doch wenn Joe Biden am 20. Januar sein Amt antritt, wird vieles anders sein. Wegen der Corona-Pandemie soll der Zugang zu der Zeremonie extrem beschränkt werden. Nur zwei Karten für sich und eine Begleitung hat jeder Abgeordnete erhalten. Die Öffentlichkeit möge zu Hause bleiben, hat das Inaugurationskomitee des künftigen Präsidenten gebeten. Ein Teil der Feier soll mit Videoschalten und Einspielungen virtuell ablaufen.
Nicht nur die ungebremste Ausbreitung des Virus, das in den USA bereits mehr als 350.000 Menschenleben gefordert hat, dämpft die allgemeine Feierlaune zum Amtswechsel im Weißen Haus. Der bevorstehende Festakt wird auch von der beispiellosen Weigerung des Noch-Präsidenten Donald Trump, seine Niederlage einzugestehen, und seinen staatsstreichähnlichen Sabotageversuchen überschattet. Dass der narzisstische Möchtegernautokrat an der Inaugurationsfeier nicht teilnehmen dürfte, kann Biden leicht verschmerzen. Eine schwere Bürde für den neuen Präsidenten ist, dass dank der aberwitzigen Desinformationskampagne seines Vorgängers nur ein Viertel der Republikaner-Anhänger seine rechtmäßige Wahl anerkennen wollen.
„Ich glaube nicht, dass es einen Honeymoon gibt“, sagt Biden
„Lasst uns zusammenkommen, heilen und wiederaufbauen“, hat Joe Biden am Neujahrsmorgen getwittert. Aber der 78-Jährige macht sich keine Illusionen, dass extrem schwierige Wochen und Monate vor ihm liegen. „Ich glaube nicht, dass es einen Honeymoon gibt“, gestand er kurz vor Weihnachten: „Sie werden mir keinen Gefallen tun.“ Das hat sich schon gezeigt, als eine Trump-treue Verwaltungsbeamtin grundlos wochenlang die reguläre Vorbereitung der Amtsübergabe verweigerte. Das bekommen Bidens Mitarbeiter seither täglich zu spüren, wenn ihnen die Geheimdienste und das Verteidigungsministerium wichtige Informationen vorenthalten. Und das wird dem Fernsehpublikum am kommenden Mittwoch in einem rohen Spektakel vorgeführt, das man sonst nur aus Bananenrepubliken kennt.
Eigentlich ist die gemeinsame Sitzung des Repräsentantenhauses und des Senats am Dreikönigstag eine Formalie: Die Ergebnisse des Wahlleutegremiums, wo Biden 306 und Trump 232 Stimmen auf sich vereinen konnten, werden dem Parlament zur Kenntnis gebracht und vom Vizepräsidenten bestätigt. Nur bei offensichtlichen Unregelmäßigkeiten können einzelne Senatoren gemeinsam mit Abgeordneten Einspruch gegen die Stimmen einzelner Bundesstaaten einlegen und dann eine Debatte in beiden Häusern samt Abstimmung über deren Anerkennung erzwingen.
Trump hat seine teils fanatischen, teils opportunistischen Anhänger so lange aufgehetzt und schikaniert, bis sich tatsächlich ein Senator gefunden hat, der den Antrag stellt. Angeblich wollen ihn gar 140 republikanische Abgeordneten im Repräsentantenhaus unterstützen. Zwar wird der Aufstand dort mit Sicherheit von den demokratischen Mehrheit niedergeschlagen, und selbst das Biden-feindliche „Wall Street Journal“ geißelte an Silvester die „Kamikaze-Aktion“. Doch mit dem Theater lässt sich die Veranstaltung stundenlang in die Länge ziehen und der Fieberwahn von einem Wahlsieg Trumps befeuern.
Obwohl inzwischen 90 Gerichte die Klagen wegen angeblicher Wahlmanipulation unisono zurückgewiesen haben, glauben die Anhänger des Präsidenten dieses Verschwörungsmärchen immer noch. Der politische Sektenführer im Weißen Haus hetzt sie mit immer aberwitzigeren Tweets auf und inszeniert einen beunruhigenden Aufmarsch auf Washingtons Straßen. „Riesiger Protest in D. C. (District of Columbia, d. Red.) am 6. Januar“, twitterte er: „Seid dabei, es wird wild!“ Zehntausende Fans wollen dem Aufruf folgen. Die Behörden befürchten Krawalle und Gewalt. Nach amerikanischen Medienberichten planen rechtsextreme Schlägertrupps ernsthaft ein „bewaffnetes Feldlager“ auf der Mall.
„Ganz gleich, welche Possen am 6. Januar aufgeführt werden: der gewählte Präsident Biden wird am 20. Januar vereidigt“, spielt ein Biden-Sprecher den Aufstand herunter. Tatsächlich ist für Biden viel bedeutsamer, was am Tag zuvor rund 1000 Kilometer südlich in Georgia passiert. In dem traditionell konservativen Bundesstaat, der einst Baumwolle und Pfirsiche produzierte und heute Weltkonzerne wie Coca-Cola und CNN beheimatet, werden bei einer Stichwahl nämlich zwei Sitze im Washingtoner Senat vergeben. Die Amtsinhaber sind Republikaner. Gelingt es den Demokraten, beide Mandate zu erobern, gäbe es im bislang republikanischen Senat ein Patt mit jeweils 50 Stimmen, das die künftige Vizepräsidentin Kamala Harris zugunsten der Regierung auflösen könnte.
In Georgia werden die Weichen gestellt
Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit leichten Vorteilen für die demokratischen Herausforderer voraus. Angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen über die Präsidentschaftswahl könnte es eine nervenaufreibende Zitterpartie geben, bis das Endergebnis feststeht. Doch klar ist, dass der Urnengang die Weichen für Bidens politisches Schicksal stellt: Gegen eine republikanische Senatsmehrheit unter Führung des zynischen Machtstrategen Mitch McConnell kann der künftige Präsident zentrale Vorhaben wie eine Erhöhung der Unternehmenssteuern, eine Ausweitung der Krankenversicherung oder Milliardeninvestitionen in den Klimaschutz gleich vergessen.
„Wir brauchen diese beiden Sitze“, hat Biden bei einer internen Sitzung kürzlich eindringlich gemahnt. Am Montag will er nach Atlanta fliegen, um bei einer Kundgebung erneut für seine Parteifreunde zu werben.
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Doch selbst mit einer hauchdünnen Mehrheit im Senat würde das Regieren für den künftigen Präsidenten zu einem schwierigen Balanceakt. Nicht bei allen Themen sind die Demokraten einer Meinung. Zudem sind für wichtige Gesetzgebungsvorhaben 60 Stimmen erforderlich. Auch deshalb hat Biden auf Schärfen im Wahlkampf verzichtet und stets für eine Überwindung der politischen Spaltung geworben.
Der Politveteran vertraut auf seine 36-jährige Erfahrung im Senat und persönliche Kontakte zu Ex-Kollegen im republikanischen Lager. „Sobald Trumps Schatten verblasst, werdet ihr eine Menge Veränderung sehen“, prophezeite er bei einer internen Telefonkonferenz seinen Unterstützern: „Es wird eine Menge Leute geben, die mit uns zusammenarbeiten wollen.“ Aus dieser Zuversicht spricht die langjährige Erfahrung. Doch es ist keineswegs sicher, dass die traditionellen politischen Gesetze in dem vergifteten Klima Washingtons noch gelten.
Ob es genügend Republikaner gibt, die zu einer konstruktiven Zusammenarbeit und einem möglichen Konflikt mit ihrer fanatisierten Basis bereit sind, wird sich schon in den nächsten Wochen zeigen. Bidens Kabinett muss vom Senat bestätigt werden. Hinter den Kulissen werben die Kandidaten daher schon jetzt im anderen Lager um Unterstützung. Die auch bei Konservativen geschätzte künftige Finanzministerin Janet Yellen dürfte dabei weniger Probleme haben als beispielsweise Neera Tanden, die das wichtige Budgetbüro im Weißen Haus leiten soll.
Die Tochter indischer Einwanderer steht bei linken Demokraten im Geruch einer zu großen Nähe zur Wallstreet, während sie die Republikaner mit Trump-kritischen Tweets gegen sich aufgebracht hat. Die Posts sind längst gelöscht, und die 50-Jährige bemüht sich um Vertrauensbildung. Doch nicht jeder kann eine so ungewöhnliche Charmeoffensive fahren wie der designierte Außenminister Tony Blinken: Der Hobbygitarrist hat seine besten Songs bei Spotify eingestellt.
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Wahrscheinlich wird Bidens Regierung anfangs mit zahlreichen kommissarischen Ressortchefs starten. Doch davon will sich der neue Präsident nicht aufhalten lassen. Gleich am ersten Amtstag, so hat er angekündigt, werde er in wichtigen Politikfeldern das Ruder herumreißen. So will der Demokrat per Unterschrift in das Pariser Klimaschutzabkommen zurückkehren, das Einreiseverbot für Bürger aus muslimischen Staaten aufheben und die Rücknahme von Trumps Steuersenkungen einleiten.
Vor allem aber hat er versprochen, sich mit vollem Einsatz der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu widmen. Die Herstellung des Impfstoffs und von Schutzkleidung will er mit einem präsidialen Dekret beschleunigen und eine nationale Maskenpflicht anordnen.
Schärfer könnte der Kontrast zum Vorgänger nicht sein, der die tödliche Pandemie wie eine lästige Ablenkung von seinen vermeintlichen politischen Triumphen behandelt hat. „Die nächsten Wochen und Monate werden sehr hart sein, eine sehr harte Phase für unsere Nation“, hat der künftige Präsident schon erklärt. Das ist mehr als ein neuer Ton. Noch vor seiner offiziellen Amtseinführung auf den Stufen des Kapitols hat Biden eine andere Veranstaltung angesetzt: Am Abend des 19. Januar soll es am Lincoln-Memorial eine Gedenkzeremonie für die Corona-Toten geben.