Ein ausgedachter SPD-Abgeordneter

Jakob Maria Mierscheid: das Phantom des Bundestags und sein Erfinder

Mit Foto und Lebenslauf präsentiert sich der, allerdings nur virtuell vorhandene, SPD-Bundestagabgeordnete Jakob Maria Mierscheid auf der Internetseite des Bundestages. Seit 1979 geistert Mierscheid als eine Art Phantom durch den Bundestag. Drei SPD-Politiker haben sich Mierscheid 1979 ausgedacht. Seitdem kommt der ominöse Parlamentarier immer wieder durch schriftlich geäußerte, meist skurrile Ideen und Vorschläge zu Wort.

Mit Foto und Lebenslauf präsentiert sich der, allerdings nur virtuell vorhandene, SPD-Bundestagabgeordnete Jakob Maria Mierscheid auf der Internetseite des Bundestages. Seit 1979 geistert Mierscheid als eine Art Phantom durch den Bundestag. Drei SPD-Politiker haben sich Mierscheid 1979 ausgedacht. Seitdem kommt der ominöse Parlamentarier immer wieder durch schriftlich geäußerte, meist skurrile Ideen und Vorschläge zu Wort.

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Die älteste demokratische Partei Europas feiert 160. Geburtstag – und mittenmang einer, der ihre Idee von sozialer Gerechtigkeit, von Bodenständigkeit, von politischem Engagement wie kein Zweiter verkörpert: Jakob Maria Mierscheid.

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Nie gehört? Dann wird es Zeit. Der 90‑Jährige, 1933 in Morbach im Hunsrück geboren, gehört dem Deutschen Bundestag als Hinterbänkler seit 1979 an. Er machte sich als Haubentaubenzüchter einen Namen, kämpfte (vergeblich) für die Vergabe der Olympischen Winterspiele in den Hunsrück, stritt für die Erweiterung des Wohngeldbezugsrechts auf große Hunde wie Neufundländer, um ihre Lebenssituation zu verbessern, gilt zudem als Entdecker des nach ihm benannten „Mierscheid-Gesetzes“ – mit dem sich das Abschneiden der SPD bei Bundestagswahlen anhand der Rohstahlproduktion in den alten Bundesländern vorhersagen lassen soll. Je höher also die Rohstahlproduktion, desto besser das SPD-Ergebnis.

Wie, noch immer keinen Plan? Dann hier die Auflösung: Jakob Maria Mierscheid ist das vielleicht witzigste Satireprojekt in der 160‑jährigen SPD-Parteigeschichte. Nicht schallend komisch, aber subtil entwaffnend, weil sich hier eine politische Partei selbst auf die Schippe nahm – lange bevor es Jan Böhmermann und Oliver Welke gab.

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Jakob Maria Mierscheid ist ein erfundener Abgeordneter, ein Phantom, der es dennoch ins Namens­verzeichnis des Bundestags geschafft hat (verwitwet, Vater von vier Kindern), der in Bundestagsreden von Abgeordneten verschiedener Parteien regelmäßig zitiert wird, dessen Interviews in der SPD-Parteizeitung „Vorwärts“ auftauchen, nach dem Cafés, eine Brücke zwischen zwei Parlamentsgebäuden, sogar Rundwege in Morbach benannt wurden.

Wir hatten Haushaltsberatung, saßen danach im Bonner Bundestagsrestaurant. Unser Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner kam mit einer Dreiliterflasche Cognac vorbei.

Peter Würtz (SPD),

Mitglied des Bundestags a.D.

Tatsächlich geboren wurde Mierscheid, der ja nur eine Idee ist, im Dezember 1979. Ideengeber waren die beiden Bundestagsabgeordneten Peter Würtz und Karl Haehser. „Wir hatten Haushaltsberatung, saßen danach mit einigen Abgeordneten im Bonner Bundestagsrestaurant. Unser Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner kam mit einer Drei-Liter-Flasche Cognac vorbei“, erzählt Peter Würtz dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Haehser kam hinzu, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, man kalauerte sich in einen Rausch, Wehners Feuerwasser sorgte für ein kreatives Hochgefühl.

„Ich hatte die Idee, den langjährigen SPD-Abgeordneten und Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid, der kurz zuvor gestorben war, wieder aufleben zu lassen. Ich hatte Schmid gut gekannt, war mit ihm auf einer Türkei-Reise gewesen, vor allem seinen goldigen Humor schätzte ich sehr. Haehser steuerte den Namen der fiktiven Figur bei: ‚Jakob Maria Mierscheid soll er heißen, solche Namen sind in meiner Heimat am Mittelrhein sehr verbreitet. Er hat vier Kinder, ist katholisch`‘“, erinnert sich Würtz an Haehsers Idee.

Peter Würtz (links) als Schriftführer 1979 im Bonner Bundestag neben dem damaligen Bundestagsvizepräsident Georg Leber (beide SPD).

Peter Würtz (links) als Schriftführer 1979 im Bonner Bundestag neben dem damaligen Bundestagsvizepräsident Georg Leber (beide SPD).

Als Schneidermeister wurde Mierscheid zum Gegenentwurf eines sich bereits damals vom ursprünglichen Volksvertreter abhebenden Berufspolitikers mit makelloser Parteikarriere. „Zufällig war das nicht“, sagt Würtz, „uns schwanten da sozialdemokratische Führungsfiguren der alten Schule vor: August Bebel, der langjährige SPD-Vorsitzender in der Kaiserzeit, der ja Drechsler von Beruf war. Sein späterer Nachfolger Friedrich Ebert war Sattlermeister. Natürlich spielte da auch die Sehnsucht nach diesen bodenständigen Politikertypen eine Rolle“, so Würtz zum RND. „Und unser Kanzler Helmut Schmidt mit seinem großen wirtschaftlichen Sachverstand und seinen philosophischen Anlehnungen an Karl Popper war ja eher so der abgehobene Intellektuelle“, erinnert sich Würtz.

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Die Idee Mierscheid gewinnt an Eigendynamik

Doch ganz allein war auch Würtz nicht auf die Idee eines Phantoms im Parlament gekommen, es gab historische Vorbilder. „Als Berichterstatter im Haushaltsausschuss war ich damals auf einer Art ‚Inventur‘ im Auswärtigen Amt von Minister Hans-Dietrich Genscher tätig. Ein Referent brachte mich in den Keller, da lagen so Unikate wie die handschriftlich unterzeichnete Originalakten des Hitler-Stalin-Paktes. Aber da gab es auch einen verschlossenen Aktenschrank. Und als ich fragte, was sich darin befinde, sagte mir der Referent: ,Die Akten von Ministerialdirigent a. D. Dr. Dr. h.c. Edmund F. Dräcker.‘ Das war ein fiktiver Politiker im Auswärtigen Amt der Dreißigerjahre, der so dubiose Vorschläge machte wie Beamte nach Afrika zu versetzen, ihre Arbeitszeit auf wenige Stunden täglich zu reduzieren und der ihre Besoldung vervielfachen wollte.“

Phantom Dräcker als Vorbild

Das Phantom Dräcker hinterließ bei Würtz einen tiefen Eindruck, die Idee war geboren. Einmal in die Welt gesetzt, gewann Mierscheid, das „Phantom des Bundestags“, an Eigendynamik. Viele SPD-Politiker beteiligten sich in der Folgezeit an der „Pflege“ des Phantoms: Der damalige Staatssekretär im Bundesbauministerium, Dietrich Sperling, übernahm den Schriftwechsel im Namen des fiktiven Politikers. Später zeichnete der SPD-Politiker Friedhelm Wollner für Mierscheids angebliche Äußerungen verantwortlich. „Ich bin weder eine Erfindung, noch ein Patent, ich bin die Lösung“, lautete eine davon.

Viele Ideen steuerte Peter Würtz bei. Besonders stolz ist der Pensionär auf seine Idee, Jakob Maria Mierscheid für eine 150-prozentige Eigenheimfinanzierung durch den Staat kämpfen zu lassen.

Ich bitte um Verständnis, aber wie ich schon auf eine Anfrage des Abgeordneten Mierscheid vergangene Woche geantwortet habe ...

Standardantwort eines Staatssekretärs

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„Als ich 1990 nach 21 Jahren aus dem Bundestag ausschied, hatte sich dieser Spaß längst verselbstständigt und sich unserer Kontrolle entzogen. Bücher kamen auf den Markt (Peter Raabe (Hrsg.): Die Mierscheid-Akte. Und Jakob Mierscheid – Aus dem Leben eines Abgeordneten – d. Red.). Und für jeden Staatssekretär gehörten Sätze wie der folgende, mit denen man Anfragen abbügelte, zum Standard: ‚Ich bitte um Verständnis, aber wie ich schon vergangene Woche auf eine Anfrage des Abgeordneten Mierscheid geantwortet habe ...‘“,

Ruhig um Mierscheid ist es nie geworden. Er lebt - auch im hohen Alter: Als am 1. März 2023 der 90. Geburtstag des Phantoms begangen wurde, gab es Grußworte unter anderem von der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), ihrem Vorgänger Norbert Lammert (CDU) sowie der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD).

Ein bekennender Hinterbänkler, der aber viel angestoßen und erreicht hat – und das, ohne ein einziges Mal bei Markus Lanz zu sitzen.

Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD) über Mierscheid

In Mierscheids Heimatgemeinde Morbach gab es einen Festakt, auf dem der berühmte Sohn der Stadt geehrt wurde. Leider habe man ihm nicht direkt gratulieren können, sagte die Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD), weil er „zu dringenden Angelegenheiten in Brüssel“ weile. Die Sitzungsleiterin Özoguz beschrieb Mierscheid als „bekennenden Hinterbänkler, der aber viel angestoßen und erreicht hat – und das, ohne ein einziges Mal bei Markus Lanz zu sitzen“.

Unter dem Gelächter der Abgeordneten fügte sie hinzu: „Allerdings warten wir bis heute auf seine erste Rede im Bundestag.“

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Gäbe es Jakob Mierscheid nicht, müsste man ihn erfinden.

Thomas Oppermann (SPD) im Jahr 2014

Bundestagspräsidentin Bas sagte: „Dass er ein Phantom sei, hat er stets abgestritten. Sicher ist aber, als guter Geist des Parlaments wirkt Jakob Mierscheid im Deutschen Bundestag seit 1979.“ Der 2020 verstorbene SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann drückte es 2014 so aus: „Gäbe es Jakob Mierscheid nicht, müsste man ihn erfinden.“

Seine größte politisch Hinterlassenschaft

Peter Würtz, der eigentlich Erfinder, nennt Jakob Maria Mierscheid seine größte politisch Hinterlassenschaft: „Als Abgeordneter wurde ich zwei Mal in meinem Wahlkreis Diepholz mit Direktmandat in den Bundestag gewählt, ich habe für meine Region sicher viel erreicht. Aber all das wird vermutlich von Mierscheid überstrahlt, um den es nie still geworden ist.“

Apropos still: Was rät Mierscheid, das heute 90-jährige Bundestags-Phantom, seinen Genossen angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine? „Das ist eines der größten Unglücke, welches uns widerfahren konnte. Warum muss das ausgerechnet in unserer Regierungszeit passieren?“ Und mit gebührendem Ernst fügt Peter Würtz dann noch hinzu: „Keiner hat eine zufriedenstellende Antwort, wie man dieses schreckliche Morden beendet. Ich weiß nur, dass es neben den Hilfen für die Ukraine auch um Diplomatie gehen muss - sonst wird da noch in fünf Jahren gekämpft.“

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