Reformen in Italien: Der Draghi-Express kommt erstmals ins Stocken
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Mario Draghi, Ministerpräsident von Italien.
© Quelle: imago images/Italy Photo Press
Rom. Das „Konkurrenz-Dekret“ hätte von der Regierung eigentlich bereits im Juli beschlossen werden sollen – so war es mit der EU-Kommission vereinbart gewesen. Es lässt aber bis heute auf sich warten. Im Verzug ist die italienische Regierung auch mit der Steuerreform sowie mit der Reform der Arbeitslosen- und Kurzarbeiterversicherung.
Der Rückstand auf die Marschtabelle ist nicht dramatisch, die zuständigen Ministerien arbeiten mit Hochdruck an den entsprechenden Gesetzesänderungen – aber es ist offensichtlich: Draghis Reform-Schnellzug hat an Tempo verloren. Der Grund: Einige der anstehenden Reformen berühren nationale Tabuzonen, bei denen für die Parteien der Regierungskoalition, aber auch für die meisten italienischen Bürgerinnen und Bürger der Spaß aufhört.
Das Problem mit den Bezahlstränden
Eben zum Beispiel das „Konkurrenz-Dekret“: Mit diesem neuen Gesetz soll bei öffentlichen Dienstleistungen und staatlichen Regiebetrieben – etwa bei kommunalen Wasser- und Energieversorgern – mehr Wettbewerb eingeführt und Raum für private Anbieter geschaffen werden.
Das allein ist schon schwierig genug – doch betroffen von dem Dekret ist auch ein Nationalheiligtum: die etwa 14.000 „stabilimenti balneari“, also die Bezahlstrände, die einen erheblichen Teil der 7000 Kilometer langen italienischen Küsten besetzen. Weil sich die Strandbäder auf öffentlichem Grund befinden, müssen sie dem Staat eine – in der Regel läppisch kleine – jährliche Konzessionsgebühr entrichten. Insgesamt kassiert der italienische Fiskus dabei gerade einmal 115 Millionen Euro – bei einem geschätzten Umsatz der „stabilimenti“ von 15 Milliarden Euro.
Gemäß der von der EU im Jahr 2006 erlassenen Bolkestein-Richtlinie müssten die Kommunen die von den Lidos besetzten Strandabschnitte alle paar Jahre neu ausschreiben, damit sich auch andere Interessenten als die aktuellen Betreiber um die Konzession bewerben können. Bisher sind aber alle Regierungen, sowohl linke als auch rechte, davor zurückgeschreckt, die EU-Regeln in ein nationales Gesetz zu gießen.
Mehr noch: Obwohl Brüssel wegen der Verletzung der Bolkestein-Richtlinie schon vor Jahren ein Strafverfahren gegen Rom eröffnet hat, verlängerte die erste populistische Regierung von Giuseppe Conte aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung die bestehenden Konzessionen 2018 gleich um 15 Jahre, also bis zum Jahr 2033. Selbstverständlich ohne jegliche Form von Ausschreibung.
Auch die Steuerreform tangiert ein nationales Tabu
Die Lobby der Lido-Betreiber hat die Umsetzung der Richtlinie immer erfolgreich verhindert, und die meisten Italienerinnen und Italiener finden das auch gut so: Die Vorstellung, dass das vertraute „stabilimento“ plötzlich von einem chinesischen Touroperator oder einem russischen Oligarchen übernommen werden könnte, ist zu ungeheuerlich. Immerhin hatte man in dem Lido ja schon als Kind alle Sommerferien verbracht und dabei, wer weiß, als Jugendlicher die erste große Liebe kennengelernt: Das „stabilimento“ ist Teil des eigenen Lebens, in dem Fremde nichts verloren haben.
Die Parteien in Draghis Regierungskoalition, allen voran die Lega von Matteo Salvini, sind in Aufruhr – nicht zuletzt auch deshalb, weil am 3./4. Oktober in Italiens größten Städten – Rom, Mailand, Neapel, Turin – richtungsweisende Kommunalwahlen anstehen. Es ist davon auszugehen, dass Draghi, um die Nerven der Parteiführer zu schonen, das „Konkurrenz-Dekret“ bis nach dem Urnengang wird ruhen lassen.
Das gleiche Schicksal dürfte auch die Steuerreform erleiden, denn auch sie tangiert ein nationales Tabu: die „casa“, also das in Italien sehr verbreitete Wohneigentum. Konkret sollen die in der Regel viel zu tiefen amtlichen Werte angepasst werden. Für jeden anderen Politiker käme ein solcher Versuch einem politischen Selbstmord gleich.
„Die ‚casa‘ ist ein Mythos in Italien: Sie ist die Basis der persönlichen Identität und der Stabilität“, betont der Soziologe Giuseppe De Rita. Psychologisch gesehen werde jede steuerliche Intervention beim Wohneigentum als direkter Angriff auf die eigene materielle Sicherheit und die eigene Familie empfunden. Für die Anpassung der amtlichen Werte gilt deshalb dasselbe wie für die Ausschreibung der Strandkonzessionen: Falls Draghi damit durchkommt, dann wird er etwas geschafft haben, was vor ihm noch niemandem gelungen ist.
Gespannt darf man außerdem auch sein, ob und wie es Draghi gelingen wird, die grassierende Steuerhinterziehung einzudämmen, wie dies die EU-Kommission fordert. Auch daran sind letztlich alle seine Vorgänger gescheitert.
Ein Blitzstart nach der Vereidigung als Ministerpräsident
Als Bedingung für die Auszahlung der 209 Milliarden Euro aus dem EU-Recovery-Fund verlangt Brüssel von Rom bis Ende dieses Jahres die Durchführung von insgesamt 42 größeren und kleineren Reformen. Das ist eine steile Vorgabe, besonders mitten in einer Pandemie, deren Bekämpfung erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen beansprucht. Einen Teil der Bedingungen hat Draghi bereits erfüllt – dank eines Blitzstarts, den er nach seiner Vereidigung zum neuen Ministerpräsidenten im Februar hingelegt hatte.
Als Erstes legte er Brüssel einen neuen nationalen Plan zur Verwendung der Wiederaufbauhilfen vor, der von der EU-Kommission mit viel Lob bedacht wurde. Danach schuf er einen von ihm persönlich geleiteten Einsatzstab, der dafür sorgen soll, dass die Kredite und Zuschüsse auch tatsächlich bis 2026 ausgegeben werden. Eine Justizreform, mit welcher die langen Verfahren drastisch verkürzt werden, ist ebenfalls schon weit gediehen.
Zur Belohnung hat Brüssel bereits im August eine erste Tranche von 25 Milliarden Euro aus dem Recovery Fund an Rom überwiesen. Mit anderen Worten: Das große Vertrauen, das Italien in Brüssel dank der Ernennung Draghis zum Regierungschef genießt, ist trotz der ersten Verzögerungen bei den Reformen nach wie vor intakt.
Gleichzeitig kommt Rückenwind aus der Wirtschaft: Im Rahmen des erneuerten Finanzplans konnte die Regierung soeben die Wachstumsprognosen für das laufende Jahr um 1,5 Prozent anheben – auf 6 Prozent bis zum Jahresende. Die italienische Wirtschaft erholt sich damit schneller als die deutsche und die französische – auch wenn es zu berücksichtigen gilt, dass die Wirtschaftsleistung in Italien 2020 wegen der Pandemie stärker eingebrochen war.
Die höhere Wirtschaftsleistung wird dem Staat 10 bis 12 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen einbringen – die wiederum zur Finanzierung einiger noch anstehender Reformen verwendet werden können.