Suche nach Kriegsverbrechen in Isjum: Leichen mit Seilen um den Hals und gefesselten Händen gefunden
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Oleg Kotenko, der Beauftragte für Vermisstenfragen unter besonderen Umständen, filmt in Isjum mit seinem Smartphone das Grab eines ukrainischen Soldaten, der zu Beginn des Krieges von den russischen Streitkräften getötet worden war.
© Quelle: Evgeniy Maloletka/AP/dpa
Nach der Rückeroberung der ukrainischen Region Charkiw hat die Suche nach russischen Kriegsverbrechen begonnen. In der Nähe der Stadt Isjum haben die Behörden mehr als 450 Leichen gefunden. Laut dem ukrainischen Vermisstenbeauftragten Oleh Kotenko soll es sich nicht wie zunächst angenommen um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber handeln.
Vergleichbar mit dem Kiewer Vorort Butscha, wo Hunderte Zivilisten mit Folterspuren entdeckt worden waren, sei die Situation in Isjum aber laut Kontenko nicht. Er geht davon aus, dass die Gräber in großer Eile ausgehoben wurden. Es gebe nur Zahlen auf den Gräbern, fast nirgendwo Namen, erklärte er im ukrainischen Fernsehen. „Als Izyum erobert wurde, beschossen die Russen die Stadt sehr schwer und die Menschen starben direkt auf der Straße.“ Bestattungsdienste hätten nicht gewusst, wer die Toten seien und hätten sie auf diesem Friedhof anonym beerdigt. Ein Ermittler der ukrainischen Polizei in der Region Charkiw sagte dem TV-Sender Sky News, dass einige der Toten gefoltert und erschossen wurden. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Ein Journalist der Nachrichtenagentur Reuters berichtet aber von Leichen mit Seilen um den Hals und gefesselten Händen. Dem Internetsender Hromadske zufolge waren bei 3 von 40 exhumierten Leichen die Hände gefesselt. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von Folterspuren und schrieb bei Telegram: „Das muss die ganze Welt sehen.“
Vermisstenbeauftragter hält Grabfunde in Isjum nicht für „neues Butscha“
Ein ukrainischer Vermisstenbeauftragten will den Leichenfund von Isjum nicht mit den Vorkommnissen in Butscha vergleichen.
© Quelle: dpa
Angriff könnte Kriegsverbrechen sein
Wichtig sei nun, herauszufinden, so der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck, wer in diesem Massengrab liege und warum. „Die forensische Analyse wird zeigen, ob wie in Irpin und Borodjanka ukrainische Zivilisten zu Tode gefoltert und dort verscharrt wurden“, sagte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es würde ihn nicht überraschen, wenn in Isjum und der Region Charkiw erneut Beweise für russische Kriegsverbrechen gefunden werden.
Anders als im Fall von Butscha wurde Isjum erst nach mehr als fünf Monaten befreit und der Zustand der Leichen kann daher deutlich schlechter sein.
Steffen Halling,
Osteuropa-Experte
„Wenn Zivilisten bei Angriffen sterben, kann dies ebenfalls unter dem Straftatbestand von Kriegsverbrechen fallen“, stellt Osteuropa-Experte Steffen Halling von der Universität Bremen klar. Er hat selbst für das Bündnis „Justice for Peace in Donbas“ Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert.
Das humanitäre Völkerrecht sieht eine klare Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivile Objekte im Krieg vor. Der wahllose Beschuss von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur gelte laut Halling als Kriegsverbrechen. „Die Leichen werden jetzt identifiziert und die genaue Todesursache festgestellt – das dauert Tage, wenn nicht Wochen“, sagte Halling dem RND.
Isjum wurde erst nach mehr als fünf Monaten unter russischer Kontrolle zurückerobert. Dennoch geht der Experte davon aus, dass mögliche Kriegsverbrechen entdeckt werden. „Auch nach so langer Zeit lässt sich immer noch feststellen, ob beispielsweise eine Person durch einen Kopfschuss gestorben ist oder ob Splitter auf Artilleriebeschuss hindeuten.“ Er hält es durchaus für plausibel, dass es sich um einen provisorischen Friedhof handeln könnte, um Opfer des Krieges zu begraben. Neben den forensischen Untersuchungen werde es zur Aufklärung auch Zeugenbefragungen und eine Auswertung von Satellitenbildern und Videos geben.
Illegale Gefängnisse, in denen Zivilisten und Kriegsgefangene gefoltert werden, gab es bereits in Donezk seit 2014.
Steffen Halling,
Osteuropa-Experte
Ukrainische Polizei: Mindestens zehn Folterräume
Unter den 450 Toten sollen sich auch ukrainische Soldaten befinden. Einzelheiten wollen nun die Behörden und ein Team des UN-Menschenrechtsbüros untersuchen. Am Donnerstagabend informierte der ukrainische Innenminister Jewhen Jenin darüber, man habe in der Region Charkiw auch Folterkammern gefunden, in denen Russland ukrainische Staatsangehörige und auch Ausländer misshandelt haben soll. Man habe Leichen mit Folterspuren entdeckt. Die ukrainische Polizei sprach später von „mindestens zehn Folterräumen“ in Orten der Region Charkiw.
Ähnliche Gräueltaten wie in Butscha und das gezielte Töten von Zivilisten seien ein elementarer Bestandteil des russischen Krieges, so Halling. „Es gibt viele Anzeichen, dass Russland als Kriegstaktik systematisch auf Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung setzt, um sie einzuschüchtern und zu demoralisieren.“ Die Berichte von Foltergefängnissen überraschen Mangott und Halling nicht. „Illegale Gefängnisse, in denen Zivilisten und Kriegsgefangene gefoltert werden, gab es bereits in Donezk seit 2014″, sagt Experte Halling.
Vermisstenbeauftragter hält Grabfunde in Isjum nicht für „neues Butscha“
Ein ukrainischer Vermisstenbeauftragten will den Leichenfund von Isjum nicht mit den Vorkommnissen in Butscha vergleichen.
© Quelle: dpa
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte die mutmaßlichen Verbrechen der russischen Soldaten scharf. „Butscha, Mariupol und jetzt leider auch Isjum: Russland hinterlässt überall Tod und muss sich dafür verantworten“, sagte er nach einem Besuch der Stadt Isjum. Menschenrechtsorganisationen weltweit dokumentieren mögliche Verbrechen in der Ukraine. Vor dem Helsinki-Komitee in den USA berichtete nun ein ukrainischer Sanitäter, dass sogar schwangere Gefangene und eine Mutter mit ihrem toten Kind auf dem Arm in den Gefängnissen zu Tode gefoltert worden seien.
Ukraine will Russen zur Rechenschaft ziehen
Ob russische Soldaten oder Putin zur Rechenschaft gezogen werden können, ist jedoch unklar. Die Ukraine möchte die Fälle vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen und Putin vor ein internationales Tribunal stellen. Die Ermittlungen laufen bereits. „Doch vielen ist klar, dass sich dies nur sehr schwer umsetzen lässt“, gibt Halling zu bedenken. Trotzdem sei es wichtig, die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine zu dokumentieren. Neben der juristischen Aufarbeitung gehe es laut Halling um die kollektive Erinnerung der ukrainischen Gesellschaft und das Recht der Angehörigen, zu erfahren, was mit ihren Verwandten passiert ist. „Gegenüber den russischen Soldaten und der eigenen Bevölkerung soll demonstriert werden, dass es keine Straffreiheit gibt.“
Es überraschte mich nicht, wenn Russland Foltergefängnisse in der Ukraine aufgebaut hat.
Gerhard Mangott,
Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit dem Schwerpunkt Osteuropa und Russland
Experte Mangott erklärt, dass Kriegsverbrechen auf Anordnung der Kommandeure verübt worden sein könnten, um der Aggression in der russischen Truppe freien Lauf zu lassen. „Diese Kriegsverbrechen könnten auch von den Soldaten aufgrund ihrer Angst, der psychischen Belastung und Rachegefühlen und dem Drang nach Vergeltung verübt werden.“ Die Hemmschwelle dürfte, so Mangott, angesichts der russischen Propaganda, dass man gegen Nazis kämpfen würde, auch geringer sein.
Im russischen Staatsfernsehen rufen prominente Abgeordnete inzwischen offen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine auf. Russland solle „hart und kompromisslos“ gegen die Menschen in der Ukraine vorgehen, kritische Infrastrukturen zerstören, „die Ukraine in Dunkelheit stürzen“ und bis Dezember 20 Millionen ukrainische Flüchtlinge nach Europa treiben. Die Regeln des Westens, die Kriegsverbrechen verbieten, seien bloß optionale „Handlungsempfehlungen“.
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