Es geht schon lange nicht mehr um „Reformen“

Fällt das Regime, dann fällt auch die Vormacht des Islam im Iran

Demonstranten skandieren während eines Protestes in der Innenstadt von Teheran Parolen gegen den Tod der 22-jährigen Iranerin Mahsa Amini. S

Demonstranten skandieren während eines Protestes in der Innenstadt von Teheran Parolen gegen den Tod der 22-jährigen Iranerin Mahsa Amini. S

Für den Religionswissenschaftler Michael Blume, Autor des Buches „Islam in der Krise“, richtet sich der Aufstand im Iran auch gegen die islamische Vorherrschaft. „Wir haben schon vor der aktuellen Krise Statistiken ausgewertet, die deutlich gemacht haben, wie fortgeschritten die Säkularisierung im Iran bereits ist. So rapide wie in keinem anderen islamisch geprägten Land“, sagt der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

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Mit Dingen wie Kopftuchzwang verspielt man jegliche Glaubwürdigkeit

Das sei vor allem der Tatsache geschuldet, „das das Regime religiöse Indoktrination mit Zwang aufrechterhält. Mit Dingen wie Kopftuchzwang verspielt man jegliche Glaubwürdigkeit, die Menschen werden der Religion überdrüssig, Europa hat diese Erfahrungen mit der katholischen Kirche im Mittelalter auch gemacht, daraus sind dann die Reformation und später die Aufklärung entstanden. Werden Religionen mit Zwang durchgesetzt, zerstören sie sich selbst“, so Blume.

Heute gibt es eine Kampagne, Geistlichen auf der Straße den Turban vom Kopf zu schlagen.

Mahdi Rezaei-Tazik,

Islamwissenschaftler an der Universität Bern

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Auch der Schweizer Islamwissenschaftler Mahdi Rezaei-Tazik stellt im heutigen Iran eine enorme Distanz der Menschen zum Islam fest. „Das iranische Volk ist heute viel säkularer – im politischen und philosophischen Sinne – als vor der islamischen Revolution im Jahre 1979. Politisch gesehen ist das Volk viel säkularer geworden, weil es am eigenen Leib erlebte, was für Folgen die Einmischung von Religion und Staat nach sich ziehen“, sagt er dem RND.

Das war einmal anders. So sei es „am Ende der Regierungszeit des Schahs noch ein geflügeltes Wort zu sagen, ‚ich habe das Gesicht des Revolutionsführers Ajatollah Khomeini im Mond gesehen‘. Das war damals Ausdruck einer religiösen Hoffnung, sie skandierten ‚Allahu Akbar‘. Heute gibt es eine Kampagne, Geistlichen auf der Straße den Turban vom Kopf zu schlagen“, so der im Iran geborene Wissenschaftler.

Gegen den Islamismus

Was aber nicht automatisch bedeutet, dass der derzeitige Aufstand „antiislamisch“ genannt werden kann. Da gehen die Demonstranten sehr vorsichtig vor, um religiöse Mitdemonstrierende nicht zu verprellen. „Die heutigen Proteste im Iran richten sich gegen den Islamismus und nicht vordergründig gegen den Islam. Die Proteste sind säkularer Art. Es sind keine antireligiösen Parolen und Handlungen zu beobachten. Hinzu kommt, dass der Protest auch von religiösen Menschen, darunter die Schwester und die Nichte des Revolutionsführers selbst, getragen wird“, so Rezaei-Tazik.

Der Religionswissenschaftler Michael Blume ist auch Antisemitismusbeauftragte für Baden-Württemberg,

Der Religionswissenschaftler Michael Blume ist auch Antisemitismusbeauftragte für Baden-Württemberg,

Religionswissenschaftler Blume hält es durchaus für möglich, dass das Regime kollabiert. „Dann glaube ich an das Entstehen einer echten säkularistischen Republik, mit einer Strahlkraft auf die gesamte Region“, so Blume. Im anderen Falle haben wir es in Zukunft mit einer Atommacht zu tun – und mit Massenmigration.

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Auch Rezaei-Tazik geht davon aus, dass eine Überwindung der Mullah-Herrschaft zu einer „säkularen Demokratie“ führen würde. „Alle Oppositionsgruppen von links bis konservativ haben sich darauf geeinigt, dass das politische System des Iran in Zukunft säkular und demokratisch sein muss. Im Iran kursieren Manifeste, die säkular und demokratisch verfasst sind. In der Gesellschaft wird der Islam weiter eine Rolle spielen – wenn auch eine komplett andere als heute: Der Islam in Iran wird mit der Auflösung der islamischen Republik vom Islamismus befreit“, so Rezaei-Tazik.

Eine Emanzipierung breiter gesellschaftlicher Schichten im Iran vom Islam ist schon lange zu beobachten. „Studien zeigen, dass die Moscheen leer sind, dass sich immer Menschen als areligiös verstehen, als Nichtmuslime. Noch nie sind im Ausland so viele religionskritische Bücher iranischer Autoren publiziert worden wie heute /in den letzten 43 Jahren“, sagt Rezaei-Tazik.

„Wir erleben, dass 40 Prozent der Menschen, die uns aus dem Iran erreichen, als Religionszugehörigkeit ‚keine‘ angeben, 10 Prozent nennen sich sogar Christen. Zudem gibt es eine starke Rückbesinnung im Land auf zoroastrische also vorislamische Traditionen, auch die Religion der Bahai erlebt einen enormen Zulauf“, erklärt Blume.

Heftige Ausschreitungen bei Protesten im Iran halten an
25.10.2022, Iran, Teheran: Auf diesem Foto, das von einer Person aufgenommen wurde, die nicht bei Associated Press angestellt ist und der AP außerhalb des Irans zur Verfügung gestellt wurde, sind brennende Gegenstände im Rahmen von Protesten zu sehen. Die Proteste richten sich gegen das Regime, nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Haft der Sittenpolizei. Foto: Uncredited/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Erneut Ausschreitungen im Iran: Bilder zeigen Proteste in Fuladshahr, Chomein und Teheran. Auch das Haus des Republikgründers Khomeini soll gebrannt haben.

„Der Iran ist heute eine in weiten Teilen säkularistische Gesellschaft“, bestätigt auch der Politologe Ali Fathollah-Nejad gegenüber dem RND. Viele Menschen wenden sich aber auch wieder der altpersischen Kultur zu und verdammen vieles, was sie als fremd und arabisch empfinden – und machen in ihrer Kritik auch nicht vor dem Islam halt.

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Als im 7. Jahrhundert die Araber den letzten persischen Großkönig besiegen, beendeten sie damit eine etwa 1300 Jahre alte Hochkultur mit eigener Religion, deren Einfluss einst bis nach Europa gereicht hatte. In dieser Rückbesinnung auf einstige antike Größe, im Gefühl ihrer Einzigartigkeit auch in Abgrenzung zu den arabischen Einflüssen, die vor dem Islam nicht haltmacht, sieht Blume zudem einen Grund für die Religionsmüdigkeit der Menschen im Iran.

Grabmal von König Kyros dem Großen nahe der alten Residenzstadt Pasargadae, 130 Kilometer nordöstlich von Schiras. Zweimal im Jahr, zum persischen Nouroz-Fest Ende März und zum Geburtstag des Übervaters Kyros am 29. Oktober, versammeln sich hier Tausende.

Grabmal von König Kyros dem Großen nahe der alten Residenzstadt Pasargadae, 130 Kilometer nordöstlich von Schiras. Zweimal im Jahr, zum persischen Nouroz-Fest Ende März und zum Geburtstag des Übervaters Kyros am 29. Oktober, versammeln sich hier Tausende.

Beispielsweise versammeln sich zweimal im Jahr, zum persischen Nouroz-Fest Ende März und zum Geburtstag von Kyros dem Großen am 29. Oktober, Tausende vor allem junge Menschen am Grabmal des antiken Perserkönigs nahe der alten Residenzstadt Pasargadae, 130 Kilometer nordöstlich von Schiras. Mehrfach schon mündete diese Wallfahrt in einem Protest gegen die Mullahs. „Es gibt im Iran nicht erst seit gestern einen starken nationalen Rückgriff auf die vor-islamische Kultur“, so der Religionswissenschaftler Blume.

Auch das sei eine Reaktion auf die Indoktrination durch das Mullah-Regime, erklärt der Islamwissenschaftler Rezaei-Tazik von der Universität Bern: „Die Mullahs wollten das vorislamische Erbe tilgen, also reagierten die Menschen darauf mit einer besonders starken Affinität zu persischen Königen, Zoroastrismus et cetera. Ob das wirklich identitätsstiftend ist, wird sich zeigen.“

„Der Islam wird natürlich als starkes Element überleben“, ist der Religionswissenschaftler Blume überzeugt, „nur eben in einer anderen, weniger dominanten Position“.

Säkularisierungstendenzen auch in Ägypten oder im Irak

Säkularisierungstendenzen seien laut Blume auch in anderen Ländern der Region zu beobachten, beispielsweise in Ägypten oder dem Irak. „Nur da, wo sich die Religion gegen die eigenen Eliten oder Einflüsse von außen instrumentalisieren lässt, wird sie als Bewahrer der eigenen Identität empfunden und erfährt eine vorübergehende Stärkung wie in Afghanistan.“

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Ich glaube ganz grundsätzlich, dass der gesamte eurasische Gürtel durch Klimakrise und Wassermangel zerrissen wird.

Michael Blume,

Religionswissenschaftler

Blume sieht hier globale Krisen als Brandbeschleuniger am Werk. „Ich glaube ganz grundsätzlich, dass der gesamte eurasische Gürtel durch Klimakrise und Wassermangel zerrissen wird. Wenn es den Menschen im Iran gelingen würde, ihre Reformhoffnungen zu verwirklichen, würde das ähnliche Bewegungen in den anderen Ländern beflügeln. Ihr Scheitern würde indes zu Schüben von Massenmigration führen.“

Ob das Volk am Ende triumphiert und die Diktatur der Mullahs überwindet – der Schweizer Islamwissenschaftler Rezaei-Tazik ist in dieser Frage unentschieden: „Ich bin Wissenschaftler. Ich habe zu wenige Informationen, um diese Frage fundiert beantworten zu können. Drei Sachen sind aber unbestritten: Erstens, die aktuellen Proteste haben die Tatsache, nämlich dass die Ideologie des Regimes schon lange tot ist, in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Zweitens: Das Reformlager kann das Regime nicht mehr aus der Existenzskrise herausretten. Drittens: Die zeitlichen Abstände der Proteste im Iran verringen sich und die Proteste werden immer radikaler.“

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