Protestbewegung am Ende?

Iran-Experte: Ein revolutionärer Prozess zeichnet sich auch durch Phasen der Ruhe aus

Der Kampf gegen das Regime im Iran geht weiter, wenn auch für das Ausland unsichtbarer.

Der Kampf gegen das Regime im Iran geht weiter, wenn auch für das Ausland unsichtbarer.

Brennende Kopftücher auf der Straße, der wiederholte Ruf der Worte „Frau, Leben, Freiheit“: Es war eine starke Signalwirkung, die von den Protesten im Iran im vergangenen Herbst ausging. Von einem nahenden Sturz der Regierung der Islamischen Republik war schon die Rede, doch dann wurde es scheinbar still um die Bewegung.

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Tatsächlich sind die sichtbaren Straßenproteste über den Winter abgeflaut. Aber mehr als ein halbes Jahr nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini in Haft der iranischen Sittenpolizei ist die Revolution in dem Land längst nicht vorbei, ist sich Ali Fathollah-Nejad, deutsch-iranischer Politikwissenschaftler und Buchautor mit Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten, sicher – und die Stille ist eben nur eine scheinbare.

Ein revolutionärer Prozess zeichnet sich auch dadurch aus, dass es Phasen der Ruhe und des Aufruhrs gibt.

Ali Fathollah-Nejad, deutsch-iranischer Politikwissenschaftler

„Ein revolutionärer Prozess zeichnet sich auch dadurch aus, dass es Phasen der Ruhe und des Aufruhrs gibt“, erklärt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Bis Mitte November 2022 habe es ein „Hoch bei Straßenprotesten“ gegeben, dann hätten die sich reduziert. „Dieses Jahr haben wir in der Tat wenig Straßenproteste“, so der Experte, mit einigen Ausnahmen. Das heiße aber nicht, dass im Hintergrund nichts passiere. Warum also sind die sichtbaren Proteste abgeflaut – hat die islamische Regierung sie erfolgreich unterdrückt?

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Mehr als 22.000 Menschen willkürlich festgenommen

Laut dem jüngsten Report von Amnesty International von Ende März wurden seit Beginn der Proteste im Iran mehr als 22.000 Menschen willkürlich festgenommen. Zudem wurden Hunderte getötet. Die angegebenen Zahlen schwanken. Die Human Rights Activists News Agency (HRANA) etwa zählte bis Ende Januar mindestens 527 Getötete, das Regime hingegen ließ lange nur über getötete Polizisten und Milizen berichten. Ende November räumte erstmals ein General der iranischen Revolutionsgarde (IRGC) ein, dass bei den Protesten mehr als 300 Bürger getötet worden seien, darunter viele Unbeteiligte. Menschenrechtsorganisationen gehen von wesentlich mehr Toten und einer hohen Dunkelziffer aus.

Die „relative Ruhe der Straßenproteste“ nennt Experte Fathollah-Nejad auch eine Konsequenz der Repression. „Gleichzeitig ist es aber auch eine Phase, die sich dadurch kennzeichnet, dass in der Zivilgesellschaft im Iran gerade einiges an Koordinierung und Strategie stattfindet. Die nächsten Schritte werden überlegt, unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich im Iran zu Wort gemeldet mit ihren Forderungen. Ähnliches ist im Ausland zu beobachten bei der Auslandsopposition. Da ist einiges im Gange, um die nächsten Schritte innerhalb des revolutionären Prozesses zu durchdenken“, berichtet er. „Ich gehe davon aus, dass wir bald wieder auch eine Phase des Aufruhrs sehen werden.“

Experte: „Desolate“ wirtschaftliche Lage im Iran

Dabei verweist er auch auf die „desolate“ wirtschaftliche Lage des Landes. Offiziell gebe es eine Inflationsrate von 50 Prozent, in wichtigen Sektoren wie etwa der Lebensmittelbranche sogar eine von 80 bis 90 Prozent, sagt er. Die beträfe vor allem sozial schwache Haushalte stark. „Und unabhängige Ökonomen gehen davon aus, dass wir es mit einer doppelt so hohen Inflationsrate wie der offiziellen zu tun haben“, so Experte Fathollah-Nejad. Angesichts der Entwicklungen im Land ist kein Ende der Finanzkrise in Sicht. Einige Beobachter befürchten gar einen Wirtschaftskollaps in dem ölreichen Land. Die Existenznöte von Millionen Iranern haben nach Einschätzung von Beobachtern das Potenzial, eine weitere Protestwelle auszulösen.

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Man kann Wirtschaft und Politik nicht voneinander trennen in einem Land, in dem ein und dieselbe Elite wirtschaftliche und politische Macht für sich monopolisiert.

Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad

Diese Einschätzung teilt auch Fathollah-Nejad: „Durch die soziale Frage ausgelöste Proteste haben schon in der Vergangenheit zu größeren Straßenprotesten und sogar Revolten geführt, die schlagartig auch politisch umgeschlagen sind“, sagt der Politikwissenschaftler. Ähnliches erwarte er wegen der Umstände nun auch im Iran. „Man kann Wirtschaft und Politik nicht voneinander trennen in einem Land, in dem ein und dieselbe Elite wirtschaftliche und politische Macht für sich monopolisiert.“

Kopftuchpflicht soll wieder strenger durchgesetzt werden

Dass zwischendurch die Nachricht umging, der Iran werde seine Sittenpolizei abschaffen, war laut dem Iran-Experten auch kein Schritt auf die Protestierenden zu, sondern nur „Regimepropaganda“. Das zeigte sich auch nochmal daran, dass Anfang April Irans Justizchef Gholam-Hussein Mohseni-Edschehi Strafen für Frauen angedroht hat, die das Tragen des verpflichtenden Kopftuchs in der Öffentlichkeit ignorieren. Auch an Schulen und Universitäten im Iran soll die Kopftuchpflicht wieder strenger durchgesetzt werden, kündigte das Bildungsministerium des Landes an. Im Zuge der Massenproteste ignorierten und ignorieren viele Mädchen und Frauen demonstrativ die Kopftuchpflicht.

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„Die Islamische Republik ist nicht reformierbar“, sagt Fathollah-Nejad. Zudem sei es ein typisches Mindset Autoritärer, dass jegliches Entgegenkommen vonseiten des Staates gegenüber den Belangen der Gesellschaft als Schwäche wahrgenommen werde und dadurch das Risiko bestehe, dass die Forderungen der Gesellschaft an das Regime noch stärker würden. „Auf Grundlage dieser Logik ist ein Zurückweichen eher nicht denkbar“, macht der Politikwissenschaftler deutlich. Natürlich sei dieses Vorgehen risikobehaftet, „weil solch eine statische und unflexible Haltung den Unmut in der Bevölkerung noch verstärkt“.

„Staat und Gesellschaft auf Kollisionskurs“

„Staat und Gesellschaft befinden sich auf einem Kollisionskurs“, macht er deutlich. Das ließe sich auch an der Kopftuchfrage gut ablesen. „Es ist unrealistisch, dass es zu einer Lockerung bei der Kopftuchfrage kommen wird, weil dies einen der unabdingbaren Pfeiler der Islamischen Republik darstellt. Ohne Kopftuchpflicht gäbe es keine Islamische Republik.“

Diese These unterstützt das Regime selbst mit seinem Vorgehen: Das Ablegen des Hidschabs komme einer feindseligen Haltung gegenüber dem iranischen System und seinen Werten gleich, sagte Irans Justizchef Mohseni-Edschehier zuletzt laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Fars. Zudem verletze das Nichttragen des Kopftuches die öffentliche Sittsamkeit und verstoße gegen die Scharia und die Gesetze des Landes. Gesetze, auf die das Regime Experten zufolge wohl solange beharren wird, wie es an der Macht ist.

mit dpa

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