Lange Schlangen bei der Essensausgabe: Arche-Chef warnt vor Hungerkrise in armen Familien
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In der Schlange vor der Arche in Berlin-Hellersdorf warten hunderte Menschen auf eine Lebensmittelspende.
© Quelle: Till Eichenauer
Zwischen den Wohnblocks in Berlin-Hellersdorf zieht sich eine 300 Meter lange Schlange von Menschen. Es sind Familien mit Kindern, auch viele Ältere. Die meisten haben einen Rucksack oder einen Einkaufstrolley dabei, denn seit elf Uhr morgens werden große Taschen mit Lebensmittel, ausgegeben. Die ersten Bedürftigen hatten sich aber bereits drei Stunden vorher angestellt, um nicht leer auszugehen. Verteilt werden die Pakete von der Arche, einem evangelischen Kinderhilfswerk mit mittlerweile 30 Standorten deutschlandweit. Dort bekommen Kinder aus armen Familien nach der Schule eine kostenlose Mahlzeit, Kleidung und vor allem Freizeitangebote oder Hilfe bei den Hausaufgaben.
Arche-Gründer Bernd Siggelkow ist vor Ort in Berlin-Hellersdorf: „Vor einem Jahr hatten wir 50 Familien, die sich hier Lebensmittel abgeholt haben. Allein heute rechnen wir mit 1000 Familien“, sagt der Pastor. Ursprünglich hat die Arche Kinder nur vor Ort mit gekochtem Essen in ihren Einrichtungen versorgt. Während der Lockdowns der Corona-Krise hatten die Helfer begonnen, Lebensmittel zu den Familien nach Hause zu bringen. Die Pandemie scheint vorbei zu sein, aber Hunger ist bei armen Familien in Deutschland wieder ein Problem.
Pastor Bernd Siggelkow, Gründer der Arche, in Berlin mit Lebensmittelspenden während der Corona-Pandemie.
© Quelle: Arche Kinderstiftung
Laut dem Statistischen Bundesamt sind die Preise für Lebensmittel im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Besonders die Grundnahrungsmittel sind teurer geworden: Weizenmehl kostet 56 Prozent, Zucker 67 Prozent und Sonnenblumen- oder Rapsöl 69 Prozent mehr. Für viele arme Familien – besonders mit Kindern – bedeutet das weniger Essen auf dem Tisch. Deshalb verteilt die Arche die Pakete mit haltbaren Lebensmitteln wie Nudeln, Honig, Öl und Milch im Wert von rund 50 Euro. „Die Schamgrenze ist gefallen. Früher haben die Menschen gesagt: Ich gehe nicht in Arche oder zur Tafel. Das ist jetzt vorbei – der Druck ist immens gestiegen“, so Siggelkow.
Die Situation werde immer angespannter. „Früher haben wir uns auf die Kinder konzentriert. Heute müssen wir auch die Eltern mitversorgen“, sagt Bernd Siggelkow. Die Masse an Menschen, die im Norden Berlins auf ihr Essen wartet, ist aber auch eine direkte Folge des russischen Angriffskrieges vor einem Jahr. Ungefähr die Hälfte der Menschen, die heute in der Schlange stehen, kommen aus der Ukraine, schätzt der Arche-Chef.
Viele Ukrainer hilfsbedürftig
Eine, die sich eine der Einkaufstaschen abholt, ist Vira Ivanova. Sie ist vergangenes Jahr mit ihrer 16-jährigen Tochter aus dem ostukrainischen Charkiw nach Berlin gekommen. „Ein Jahr haben wir in einer Flüchtlingsunterkunft gewohnt. Jetzt haben wir endlich eine Wohnung gefunden“, sagt Vira Ivanova. Aber die kostet Geld. Die kostenlosen Lebensmittel helfen der 63-jährigen Musiklehrerin, das Geld für ihre Miete oder Kleidung für ihre Tochter aufzubringen. „Wir sind bereits zum dritten Mal hier und sehr dankbar, dass man uns in dieser schweren Zeit hilft“, sagt Vira Ivanova. Neben den Ukrainern stehen auch Sinti und Roma, syrische und deutsche Familien in der Schlange.
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Tatjana Holichenko (links) und Vira Ivanova aus Charkiw in der Ostukraine stehen vor der kostenlosen Lebensmittelausgabe.
© Quelle: Till Eichenauer
Die steigende Inflation betreffe Menschen jeder Herkunft, sagt Arche-Gründer Siggelkow. Kinder aus armen Familien seien vom Hunger bedroht: „So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen eine Preisbremse für Grundnahrungsmittel. Da muss die Politik entweder kontrollieren oder subventionieren“, sagt er. So wäre etwa die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel ein Anfang.
Viele der Menschen, die heute in Berlin-Hellersdorf in der Schlange stehen, hätten vergeblich versucht, sich über die Tafeln mit günstigen Lebensmitteln zu versorgen, so Siggelkow. „Das Problem ist aber, dass die Nachfrage nach Lebensmittelspenden durch den Ukraine-Krieg und die Inflation weiter hochgeht. Wegen der rasant steigenden Preise sortieren die Supermärkte aber weniger aus, was dann an den Ausgabestellen fehlt“, sagt Bernd Siggelkow. So würden immer mehr Bedürftige abgewiesen und gingen leer aus.
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Rund 1000 Tüten mit Lebensmitteln haben die Helfer verteilt.
© Quelle: Arche Kinderstiftung
Das kann auch der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Jochen Brühl, bestätigen: „Etwa ein Drittel der Tafeln haben einen Aufnahmestopp verhängt. Das ist leider der traurige Alltag. Es fehlen Lebensmittel, hinzu kommt der Anstieg an Kundinnen und Kunden.“ Zurzeit versorge die Tafel etwa zwei Millionen Menschen, so viele wie nie zuvor in der 30-jährigen Geschichte. „In der aktuellen Situation kalkulieren auch die Supermärkte oft anders und haben am Ende eines Tages nicht mehr so viel übrig.“ Das finden die Tafeln generell gut, da sie angetreten sind, um Lebensmittelverschwendung zu minimieren, sagt Brühl. „Gleichzeitig fehlen uns im Moment die Spenden.“
Auch der Arche fehlt es an Spenden. Im letzten Jahr hat sie einen Lebensmittelfonds gestartet. So kamen rund 400.000 Euro zusammen. Der Fonds ist für alle 30 Einrichtungen in Deutschland und mittlerweile schon wieder erschöpft. Allein die Aktion in Berlin mit 1000 Essenspaketen kostet 50.000 Euro. Um die Arbeit fortzusetzen, braucht das Hilfswerk Lebensmittel- oder Geldspenden, berichtet Bernd Siggelkow. Trotz aller Anstrengungen weiß der Pastor, Aktionen wie die in Berlin können die Folgen der Krise nur begrenzt mildern: „Wir decken hier nicht mal 5 Prozent des Bedarfs in nur einem der fast 100 Berliner Ortsteile ab“, sagt Siggelkow.