Planloses Polen? Ein Land voller Impfanreize – und einer gespaltenen Bevölkerung
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Die Impfstelle im Galaxy Center in Stettin ermöglicht es Besucherinnen und Besuchern, sich ohne eine vorherige Anmeldung gegen Covid‑19 impfen zu lassen.
© Quelle: Orlowicz/imago/TpaBMa/NurPhoto/RND-Montage Behrens
Für eine Sekunde verzieht sie ihr Gesicht, als die schützende Spritze ihre Haut durchsticht – dann hat Barbara Lewandowska es geschafft. Rund anderthalb Jahre nach Pandemiebeginn gilt die 32‑Jährige damit als vollständig immunisiert: Ihr wurde das Präparat des Herstellers Johnson & Johnson injiziert.
Mit einem Seufzer fällt die Anspannung ab, die leichten Fältchen um die Augen lassen ein Lächeln unter der blauen OP‑Maske vermuten. „Vielen Dank“, sagt die junge Polin und verabschiedet sich. 15 Minuten später hängt sie sich ihre Taschen über die Schulter und verlässt den Wartebereich mit einem Merkblatt zu ihrer Corona-Impfung in den Händen. Nächstes Ziel: der Juwelier die Rolltreppe herunter.
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Die 32‑jährige Barbara Lewandowska nach ihrer Corona-Impfung im Galaxy Stettin.
© Quelle: Jessica Orlowicz/RND
Seit dem 1. Juli gehört das Galaxy in Stettin zu den zahlreichen Einkaufszentren, die Bürgerinnen und Bürgern in Polen Impfungen gegen Covid‑19 anbieten – ohne Anmeldung, wohl aber mit freier Wahl des Vakzins. Zur Auswahl stehen neben dem Mittel der „Johnson & Johnson“-Tochter Janssen die Präparate der Hersteller Astrazeneca, Biontech/Pfizer und Moderna.
Ein Angebot, das laut Krzysztof Wilk, Koordinator der Impfstelle, täglich rund 200 Menschen annehmen. Den Grund dafür sieht Barbara Lewandowska in der Simplizität des Konzepts: „Mein Ziel war, die Impfung schnellstmöglich hinter mir zu haben. Da habe ich die Chance genutzt.“
Kleiner Piks, große Preise: Polen und die Corona-Impflotterie
Chancen nutzen, das ist auch die Absicht derer, die in Polen an der 31 Millionen Euro schweren Impflotterie teilnehmen. Hauptgewinn sind zweimal 223.000 Euro – und dazu zwei Autos mit Hybridantrieb. Wer keinen Volltreffer landet, für den gibt es immerhin Trostpreise wie Geld, Gutscheine oder Elektroroller.
Ähnliche Strategien verfolgen etwa die USA, Tschechien und die Slowakei. „Die Regierung gibt sich große Mühe, dass die Impfquote steigt“, sagt Wilk. So ist es in Polen zum Beispiel seit dem 15. Juli möglich, sich den schützenden Piks bei größeren Events wie Konzerten mit bis zu 250 Besucherinnen und Besuchern zu holen.
Während die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen in Deutschland seit einigen Tagen wieder zunimmt, bleibt der diesjährige Sommer in Polen bislang vergleichsweise frei von Fällen. Die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz liegt laut Daten der Johns-Hopkins-Universität (JHU) aktuell bei 1,6 (Stand: 19. Juli), zuletzt wurden täglich zwischen 80 und 100 neue Fälle gemeldet.
Zum Vergleich: In Deutschland waren es nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) allein am Montag 546 Neuinfektionen.
Nicht immer war die Lage im Nachbarland so entspannt. Mehr als 75.000 Menschen sind hier laut JHU schon aufgrund des Coronavirus gestorben – bei fast 38 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. In Deutschland liegt die Zahl der Todesfälle demnach bei etwa 91.000, allerdings bei einer Bevölkerung von 82 Millionen.
Es mangelt an Vertrauen in die Regierung
Dagmara Jajeśniak-Quast ist Professorin und Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Polen-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Aus ihrer Sicht hat die Zahl der Pandemietoten das Land verunsichert. Es mangele an Vertrauen. „Viele Polen sind kritisch gegenüber den Maßnahmen eingestellt, die Popularität der Regierung hat abgenommen“, beobachtet sie.
In der Krise sei es den Bürgerinnen und Bürgern beispielsweise nicht möglich gewesen, eine Ärztin oder einen Arzt zu konsultieren. Nur Telesprechstunden wurden ermöglicht, berichtet Jajeśniak-Quast. Während die Menschen dabei den Kontakt zu medizinischem Personal verloren, habe die Regierung die Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten zentralisiert. „Die Menschen hatten den Eindruck, dass etwas getan wird, um etwas zu tun“, erklärt die gebürtige Polin.
Beispielhaft dafür sei das zentrale Corona-Krankenhaus im Warschauer Nationalstadion. Wie Jajeśniak-Quast berichtet, plante die Regierung, hier im Notfall Tausende Patientinnen und Patienten zu versorgen – doch die Behelfsklinik blieb erst lange leer und kämpfte später häufig mit hoffnungslosen Fällen, als die Infektionszahlen stiegen. Stattdessen wären mehrere kleine Kliniken in ländlichen Regionen aus ihrer Sicht hilfreicher gewesen. „Vielleicht wäre es dann nicht zu so vielen Todesfällen gekommen.“
Denn viele Menschen verbinde mit der Pandemie bereits ein persönlicher Verlust: „Es gibt kaum eine Familie, die nicht jemanden kennt, der an oder mit Covid‑19 gestorben ist.“ Das habe das Land auch ein Stück weit zermürbt: „Die Leute sind müde und hoffen, dass es irgendwann vorbei ist.“
Impfungen im Einkaufszentrum kommen gut an
Viele Polinnen und Polen sind bereit, etwas dafür zu tun, dass die Pandemie endet. In der Impfstelle im Stettiner Shoppingcenter, die bis vor Kurzem noch ein Bekleidungsgeschäft war, herrscht an diesem Donnerstag angeregter Betrieb.
Eine 47‑jährige Kindergärtnerin, die ihren Namen nicht nennen möchte, hat gerade ihre schützende Spritze bekommen. Von dem Konzept ist sie überzeugt – vor allem, weil es die ärztliche Beratung ermöglicht, die viele in der Pandemie vermisst haben: „Ich wusste, dass hier ein Arzt ist, der sich ein genaues Bild macht“, sagt die Stettinerin. Es sei ihre erste Impfung gewesen. „Umso mehr Fragen hatte ich.“
Hier, in der Shoppingmall, sei es außerdem weniger voll als im Impfzentrum – und besser organisiert. Das hat auch einen anderen Impfwilligen überzeugt, der an diesem Tag schon zu seiner Zweitimpfung ins Galaxy Stettin kommt: „Ich hab viel Verantwortung, wollte mich schnell impfen lassen“, sagt der 33‑jährige Familienvater. Auch er zieht es vor, anonym zu bleiben. Es ist so eine Sache mit dem Vertrauen in Polen.
Daran mangelt es vielen in der Pandemie – auch weil Verantwortliche sich mehrmals unvorteilhaft präsentierten: „Es kann nicht sein, dass Politiker ertappt werden, wie sie in den Urlaub fahren, während andere zu Hause bleiben“, betont Jajeśniak-Quast. Auch seien Fälle bekannt, bei denen zwielichtige Geschäfte mit der Pandemie gemacht wurden. „Da verliert man die Bevölkerung.“
Maskenaffäre und Testzentrenbetrug: Auch in Deutschland gab es Pandemiepannen
Es bedarf keiner langen Suche, um auch in Deutschland auf fragwürdiges Verhalten von Verantwortlichen in Zeiten der Pandemie zu stoßen: Der Bundesrechnungshof monierte den Kauf überteuerter Masken durch das Gesundheitsministerium, Corona-Testzentren betrogen, die Politik äußerte sich gegenüber einer Impfung für Kinder mal kritisch, mal optimistisch.
Nach RKI-Angaben haben in Deutschland fast 60 Prozent der Bevölkerung eine erste Spritze gegen Covid‑19 bekommen, rund 46 Prozent gelten als vollständig immunisiert (Stand: 19. Juli).
Doch mit den sinkenden Fallzahlen im Sommer kamen auch die Terminabsagen: Sowohl Betreiberinnen und Betreiber von Impfzentren als auch Hausärztinnen und -ärzte beklagen die zunehmende Unzuverlässigkeit der Impfwilligen. Das spiegelt sich in der bundesweiten Zahl täglicher Injektionen gegen Sars‑CoV-2 wieder: Sie lag am Montag laut RKI bei 361.178. Zum Vergleich: Am 12. Mai, dem Tag, an dem demnach die meisten Impfungen verabreicht wurden, waren es noch rund 1,4 Millionen gewesen.
Nichtsdestotrotz spricht sich die große Koalition gegen materielle Impfanreize aus. Tatsächlich hat aber auch hierzulande schon jemand den Anfang gemacht: Sachsen ist mit rund 50 Prozent einfach Geimpften Schlusslicht der deutschen Impfkampagne – und hat deshalb neue Wege getestet.
So hat etwa das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gemeinsam mit einem Chemnitzer Einkaufszentrum eine Aktion gestartet, bei der die ersten 100 Besucherinnen und Besucher einer mobilen Impfstation einen 10-Euro-Einkaufsgutschein gereicht bekamen.
Polen-Expertin zur Corona-Krise: Was es braucht, ist eine ehrliche Regierung
Dass materielle Anreize zum Impfen Skeptikerinnen und Skeptiker überzeugen, bezweifelt Expertin Jajeśniak-Quast mit Blick etwa auf die polnische Impflotterie: „Diese Aktionen sind total kontraproduktiv. Alle Untersuchungen zeigen: Geld ist kein Stimulus.“
Menschen, die Probleme mit dem Vertrauen in Politik und Impfstoffe hätten, bräuchten Beratung und Expertise. „Für Geld wird sich in meinen Augen niemand impfen“, resümiert die Professorin. Statt mit finanzieller Belohnung zu locken, rät sie der polnischen Regierung zu Ehrlichkeit und der Erfüllung ihrer Vorbildfunktion.
Das fehlende Vertrauen in die Regierung hat Folgen
Wenn Politikerinnen und Politiker nicht glaubwürdig sind, resultiere daraus im Zweifelsfall eine mangelnde Gefolgschaft gegenüber dem Staat. Das zeigt sich auch im Stettiner Einkaufszentrum: Schätzungsweise jede und jeder Dritte trägt hier einen Mund-Nasen-Schutz – obwohl an jedem Eingang Schilder auf eine entsprechende Pflicht hinweisen. Nachfrage am Infoschalter des Centers: „Gibt es hier keine Maskenpflicht?“ – „Doch, na klar“, antwortet die junge Frau am Tresen. „Und warum tragen dann so viele keine?“ Ein Achselzucken gepaart mit einem schüchternen Lächeln deutet an: Diesen Zwang wird hier niemand durchsetzen.
Nur in der Impfstelle des Galaxy, da gilt die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auch in der Praxis. Wer ohne shoppt, ist laut Koordinator Wilk trotzdem willkommen: „Wir haben bei uns Masken liegen“, sagt er. „Wer keine dabei hat, kann sich eine nehmen.“