In Afrika hungern Millionen Menschen

Die fernen Opfer von Russlands Krieg

Bäuerin ohne ­Einkommen: Adhi Elema.

Bäuerin ohne ­Einkommen: Adhi Elema.

Der Tag, an dem Roba Bora seine Existenz verlor, brachte feinen Niederschlag und hätte ein Segen sein müssen – für Mensch, Tier und die ausgedörrte Landschaft. Bereits drei Regenzeiten waren im Norden Kenias ausgeblieben, die Regierung hatte den nationalen Notstand ausgerufen. Nun endlich zogen schwere Wolken über das Land. Ein kräftiger Wind trieb sie über Hunderte Kilometer in Richtung Westen. Doch statt neuen Lebens brachten sie den Tod.

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Mit der Feuchtigkeit fiel die Temperatur von Gluthitze auf 20 Grad. Mehr als eine halbe Million von der Dürre geschwächter Kamele, Rinder, Ziegen, Schafe und Esel überlebten den Schock durch die plötzliche Unterkühlung nicht. Roba Bora verlor Herde und Existenz, wie so viele der 460.000 nomadisch lebenden Bewohner der Provinz Marsabit. Das ist erst wenige Wochen her. Weiterer Regen blieb seither aus.

Die Krise reift zur Katastrophe

Hilfswerke haben den Todeskampf des schreienden Viehs dokumentiert. Es sind verstörende Bilder. Nach der Heuschreckenplage 2020, der Corona-Pandemie und den Dürren kündigt sich nun eine humanitäre Katastrophe gewaltigen Ausmaßes an. Denn die Folgen des Ukra­i­ne-Krie­ges kommen zu all den anderen Lasten hinzu. Der weltweite Nahrungsmittelmarkt gerät aus den Fugen, die Kornkammer Europas liefert nicht mehr. Allein der Preis für Speiseöl stieg in Kenia binnen weniger Tage um 50 Prozent.

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„Die Menschen in Afrika leiden unter einem Krieg, mit dem sie rein gar nichts zu tun haben“, sagt Roland Hansen, Afrikachef von Malteser International aus Köln. „Die Klimakrise haben wir verschuldet. Doch in Afrika ist sie zur Katastrophe gereift.“

Jeder Vierte hungert

Marsabit County, wie es lokal heißt, macht nicht nur ein Sechstel der Landfläche Kenias aus. Es steht mit seinen Problemen beispielhaft für das Horn von Afrika mit Teilen Äthiopiens, Somalias, Kenias und des Südsudans. Überall dort wirft der Klimawandel Überlebensfragen auf. Akut droht bis zu 20 Millionen Menschen eine Hungersnot, wie die Region sie seit 40 Jahren nicht mehr erlebt hat. Und nicht nur im Osten: In Subsahara-Afrika hungern insgesamt 230 Millionen Menschen, jeder Vierte, so viel wie nirgendwo sonst in der Welt.

„Ich kann nicht mehr schlafen. Ich sehe keinen Platz mehr für mich in diesem Leben.“

Roba Bora,

Viehhalter aus Kenia

Bisher mied Roba Bora den Ort, an dem seine Tiere starben. Nun hat er sich überwunden. Doch angesichts der jämmerlichen Überbleibsel lässt der 70-Jährige sich erschöpft nieder, stützt den Kopf ab und blickt ins Leere. Die ersten Antworten, die er auf Fragen gibt, spiegeln noch den stolzen Nomaden. Alles hat er schon erlebt – Dürren, plötzlichen Viehtod, Überweidung, Hunger und Kampf um Wasserstellen. Dann gewinnt der verzweifelte Mensch in ihm überhand: Nie kamen alle Härten dieses rauen Landstrichs auf einmal, so heftig und intensiv, sagt er. Wie soll er seine Familie ernähren, zu der auch die des verstorbenen Bruders gehört? „Ich kann nicht mehr schlafen. Ich sehe keinen Platz mehr für mich in diesem Leben.“

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Einer der unsichersten Orte Kenias

Roba Bora steht für die Mehrheit der Viehhalter. Wario Guyo Adhe von Pacida berichtet von Selbsttötungen, zerstörten Familienstrukturen und entwurzelten Jugendlichen, welche die Provinzhauptstadt Marsabit zu einem der unsichersten Orte Kenias machen. Alkohol und Drogen haben leichtes Spiel, nachts wird auf den Straßen geschossen. Kämpfe gibt es auch unter den Stämmen – um Brunnen, Weideland oder Fische aus dem Turkana-See.

Die „Vergessenen“ werden die Menschen in Kenias Norden genannt. Das örtliche Hilfswerk Pacida und Malteser International arbeiten mit ihnen gegen das Vergessen.

Symbiotisches Verhältnis zu Tieren

Wasser- und Nahrungsmittellieferungen gehören zu den Hilfen, die sie den Notleidenden anbieten, die Wiederherstellung von Brunnen und die Entsalzung von Grundwasser – und eine Art Sozialhilfe für besonders schwer Betroffene in einem Land, das keine funktionierende soziale Infrastruktur kennt.

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Hart ist das Leben hier immer gewesen. Vielleicht ist auch deshalb das Verhältnis der Menschen zu ihren Tieren symbiotisch. Beide brauchen einander. Ein Kamel schleppt Lasten und gibt Milch, und man kann sein Fleisch essen. „Wenn es keine Hirse mehr gab und der Hunger kam“, erzählt Nasak Baryo, der Dorfälteste im Flecken Watalii am Turkana-See, „haben wir unseren Rindern Blut abgezapft und es mit ihrer Milch gemischt.“ Ein Leben ohne Vieh ist physisch und kulturell nicht denkbar.

Verbrannte Erde

Nasak Baryo erzählt von früher. Milch war der Maßstab für Lebensvitalität. Viel Milch ist gleichbedeutend mit gesundem Vieh, guten Weiden und verlässlichen Regenzeiten. Der Dorfälteste schwärmt von mondhellen Nächten, in denen die Kinder spielten, wozu sie unter der sengenden Sonne des Tages gar keine Kraft hatten. Seine Frau berichtet von Hirse, Kürbissen und Wassermelonen, die man im benachbarten Äthiopien angebaut habe, wo ebenfalls Menschen ihres Volkes, der Dassanatch, lebten. Wegen des Bürgerkriegs im Nachbarland ist die Grenze nun geschlossen. „Wie sollen wir nur überleben?“, fragt der Dorfälteste. Zehn Menschen seien in der Nachbarschaft des Turkana-Sees verhungert, darunter sieben Kinder, ergänzt Roland Hansen.

„Wie sollen wir nur überleben?“

Nasak Baryo,

Dorfältester in Watalii am Turkana-See in Kenia

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Vom Flugzeug, aus wenigen Hundert Metern Höhe, erscheint die Landschaft des Nordens wie eine grob gezeichnete Karte mit wenigen Zutaten. Durch lehmgraue, wüstenähnliche Flächen schlängeln sich ausgetrocknete Flussbetten, gesäumt von Buschwerk. Hin und wieder verweist ein kreisrunder und mit Sand gefüllter Krater auf die vulkanische Vergangenheit der Region – ebenso wie die gewaltigen Felder aus Lavageröll, die von oben wie verbrannte Erde aussehen.

Vereinzelt erkennt man kreisrunde Steinpferche. Hier haben Nomaden auf der Suche nach Weidegrund ihr Vieh über Nacht geschützt und daneben ihr eigenes Lager aufgeschlagen. Nachts lauern Hyänen und Wildhunde auf leichte Beute. Verstreut sieht man geduckte Hütten, Manyattas, und Kleinvieh.

Kaum Bewegung auszumachen

Auf dem Weg vom Turkana-See in die Stadt Marsabit durchqueren wir die Chalbi-Wüste mit ihren Sand- und Geröllfeldern. Große, abgenagte Skelette von Tieren, die den Marsch zur nächsten Wasserstelle nicht mehr geschafft haben, liegen neben der unbefestigten Piste. Auch hier weisen Umfriedungen auf frühere menschliche Besiedlung hin. Sie wirken verloren in der Steinwüste. Bewegung ist nur auszumachen, wenn Windhosen rötlichen Staub aufwirbeln und entlang des Horizonts tanzen. Kaum zu glauben, dass hier in der Regenzeit das Gras hüfthoch sprießen soll. Wenn denn der Regen kommt. Die wenigen Lebewesen, die uns begegnen, sind sterbende Kamele, die mit ihrer Herde nicht mehr Schritt halten konnten. Sie haben sich auf der Piste zum Sterben niedergelegt.

An zahlreichen Stellen haben Pacida und Malteser International unterirdische Wasserspeicher angelegt, die durch Tankwagen befüllt werden. Bei dieser Gelegenheit werden auch Lebensmittel verteilt. Adhi Elema ist eine der Frauen, die hier je zehn Kilo Mais, Bohnen und Maismehl bekommen, zwei Liter Speiseöl und einen großen Wasserkanister. „Wir hatten ein gutes Leben mit unserem Vieh“, sagt die neunfache Mutter. Wo es geblieben ist? „Die Kadaver am Straßenrand habt ihr doch gesehen“, antwortet sie. Für das, was hier geschehe, habe sie keine Worte. Außer, dass das Wetter immer extremer werde.

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Dorfbewohnerin Zawadi Msafiri auf einem verdorrten Maisfeld. Das Land am Horn von Afrika kämpft mit der dritten Dürre innerhalb eines Jahrzehnts.

Dorfbewohnerin Zawadi Msafiri auf einem verdorrten Maisfeld. Das Land am Horn von Afrika kämpft mit der dritten Dürre innerhalb eines Jahrzehnts.

Um alle Hilfsgüter zu ihrer Hütte zu bringen, muss sie mehrmals kilometerweit über Lavabrocken laufen. Alles auf einmal schafft die starke Frau, die auch noch einen Säugling auf dem Rücken trägt, nicht. Vom Klimawandel habe sie gehört, antwortet sie auf Nachfragen. Aber verstehen kann sie ihn nicht. Wie es weitergeht? Adhi Elema, trotz aller Anstrengung gefasst, hat eine einfache Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Kein Geld für Schulbildung

Okotu Guyo hat unser Gespräch mitbekommen. Die etwa 70 Jahre alte Frau ist zum ersten Mal zu einer Essensverteilung gekommen. Fast, als schäme sie sich ihrer Armut. Ihre Enkel würden das gute Leben ihrer eigenen Kindheit wohl nicht mehr nachleben, sagt sie. Wegen Geldmangels könnten sie nicht mehr zur Schule gehen. Früher habe man Vieh verkauft, wenn Zahlungen anstanden. Ein Kamel brachte umgerechnet 1200 Euro. Aber ihre Tiere sind tot. Dennoch drängt es sie, Deutschland zu danken, dass es helfe. Tatsächlich sind es auch Mittel des deutschen Entwicklungs- und des Außenministeriums, die hier eingesetzt werden.

Sind allein Klimawandel und Politik für das Elend verantwortlich? So einfach sei es nicht, sagt ein Missionar, der seit Jahrzehnten im Norden lebt. Die kulturelle Überhöhung von Vieh habe die Extremlage zumindest verschärft. In Liedern des Gabra-Volkes folge auf Gott an höchster Stelle gleich das Kamel. Frische Wasserlöcher seien genutzt worden, um Herden immer weiter zu vergrößern. Ein Übermaß an Vieh strapaziere die karge Landschaft.

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Leben anpassen

Die Nomaden müssten ihr Leben anpassen, sagt der Gottesmann, auf kleinere Herden und gesünderes Vieh setzen. Wasser habe auch der Bewässerung von Feldern zu dienen. Die Menschen müssten zielgerichteter mit ihren geringen Ressourcen umgehen. Wie im Norden der Welt auch, möchte man hinzusetzen.

Doch selbst wenn dieser Wandel irgendwann stattfindet, wie überleben die Menschen bis dahin – wenn wegen des Krieges in Europa nun auch Lebensmittelhilfen versiegen? Die leere Stelle im europäischen Supermarktregal, wo Sonnenblumenöl oder Weizenmehl fehlen, steht für kleinen Verzicht. In Afrika bedeutet sie Mangel. Und Hunger.

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