Ausnahme oder Regelfall: Gehört Rechtsextremismus zum Schulalltag in Sachsen?
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Der Eingang zum ehemaligen Stammlager Auschwitz I: Leisniger Oberschüler haben für Schlagzeilen gesorgt, weil sie in einer Begegnungsstätte auf dem Gelände den Hitlergruß zeigten und das Foto im Internet posteten. Christian Piwarz (CDU), Kultusminister in Sachsen, zeigt sich „fassungslos“ darüber.
© Quelle: Czarek Sokolowski/AP
Dresden. Die Oberschule in Leisnig ist in diesen Tagen in den Schlagzeilen. Nur sind es keine positiven Überschriften, die der rund 50 Kilometer von Leipzig gelegene Ort derzeit macht. Der Vorfall, der mittlerweile bundesweit verhandelt wird, macht fassungslos. Zwei Neuntklässler der Schule haben bei einer Fahrt nach Auschwitz-Birkenau in einer Jugendbegegnungsstätte, die zum Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers gehört, den Hitlergruß gezeigt. Ein Foto davon stellten sie ins Internet. Insgesamt sechs Schülerinnen und Schüler wurden wegen der Angelegenheit anschließend suspendiert. Seit Montag sind die Betroffenen wieder an der Schule. Doch die Angelegenheit ist damit nicht erledigt. Sie schlägt Wellen.
„Das Verhalten der Schüler macht mich fassungslos und erschüttert mich zutiefst“, sagt der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU). „Was die Schüler getan haben, ist ein schwerer Verstoß gegen alle Werte, die an Schulen gelebt werden müssen.“ Gleichzeitig lobt der Minister die Lehrkräfte, die „vorbildlich reagiert“ hätten, „indem sie den Vorfall zur Anzeige gebracht haben und nun mit den betroffenen Schülern und Eltern aufarbeiten.“
Statistik lässt nicht auf Alltagsphänomen schließen
Rechtsextreme Zwischenfälle an Schulen gibt es immer wieder. Nicht nur in Sachsen: An einer Grund- und Oberschule im brandenburgischen Burg klagten Lehrerinnen und Lehrer vor wenigen Tagen in einem öffentlichen Brief über die Zustände vor Ort, wo „psychische und physische rechte Gewalt“ anscheinend alltäglich sind. An einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen stimmten Schüler kürzlich am 20. April ein Geburtstagsständchen für Adolf Hitler an.
Ein Alltagsphänomen sind solche Begebenheiten im Freistaat aber nicht. Das lässt sich zumindest aus den Statistiken schließen. Laut kriminalpolizeilichem Meldedienst wurden für das Jahr 2022 insgesamt 73 Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund an sächsischen Schulen erfasst. Die Schulen selbst meldeten 48 solcher Vorfälle ans Kultusministerium. In den ersten drei Monaten dieses Jahres ging es laut Ministeriumsangaben bei 17 von 286 besonderen Vorkommnissen an den Schulen um rechtsextreme Äußerungen, das Zeigen des Hitlergrußes oder die Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole.
Leitfaden soll einheitliches Vorgehen der Schulen garantieren
„Rechtsextreme Vorfälle an einzelnen Schulen zeigen uns, dass menschenfeindliche Symbole, abwertende Sprüche oder verfassungsfeindliche Symbole nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch an Schulen zirkulieren“, sagt Minister Piwarz. Ganz wichtig sei, dass extremistische Einstellungen an der Schule nicht geduldet, „sondern deutlich und klar geahndet werden.“ Sein Ministerium hat darum eine Beispielsammlung für die Schulen erstellt – eine Art Leitfaden, um ein einheitliches Vorgehen zu garantieren. Darin werden Einzelfälle strafrechtlich, schulrechtlich und pädagogisch untersucht und Handlungsvarianten aufgezeigt.
An Angeboten, um sich über die Schrecken des Nationalsozialismus zu informieren, mangelt es zudem nicht. Die Landesregierung unterstützt Klassenfahrten zu Gedenkstätten für NS-Opfer außerhalb Sachsens über das Landesprogramm Weltoffenes Sachsen. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung bietet zum Beispiel seit 1994 eine einwöchige Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz, Auschwitz-Birkenau und Krakau an. Sie hat darüber hinaus eine Reihe von Publikationen zum Holocaust im Programm. Reicht das aus, um rechtsextremem Gedankengut wirksam begegnen zu können?
„Die historische Allgemeinbildung geht insgesamt zurück“
„Wir erleben bei Veranstaltungen oder auf Buchmessen oftmals sehr großes Interesse und zum Teil sehr gute Kenntnisse sowie abwägende Urteile zum Thema bei Jüngeren. Dies sind aber ganz offensichtlich die historisch oder allgemein politisch Interessierten – eine überschaubare Minderheit“, sagt Werner Rellecke, stellvertretender Direktor der Landeszentrale. „In weiten Teilen der heutigen Schülergeneration wird weniger gelesen als vor zehn oder 20 Jahren. Die historische Allgemeinbildung geht insgesamt zurück. Fundierte politische Urteilsbildung ist schwer zu verankern.“
Nachfrage bei der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, die Führungen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers bei Weimar anbietet: Auch dort seien Vorkommnisse wie der mit den Leisniger Schülern und Schülerinnen „nicht ganz unbekannt“, sagt Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner: „Seit Jahrzehnten geschieht so etwas auch in Buchenwald immer mal wieder, auch aus Schülergruppen heraus.“ Es komme aber „nur recht selten“ vor.
Lehrkräfte handeln bei Vorfällen unterschiedlich
Wagner beobachtet allerdings, dass die Lehrkräfte unterschiedlich mit Ereignissen dieser Art umgehen. „Manche Lehrkräfte nehmen solche Vorfälle sehr ernst und zum Anlass, in der Schulklasse eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus anzugehen.“ Andere versuchten das Problem kleinzureden oder als „Dummejungenstreich“ abzutun. „Bisweilen, so unsere Erfahrung, auch aus der Motivation heraus, dass sie vermeiden wollen, dass die Schule öffentlich in ein schlechtes Licht gerückt wird.“
Holocaust-Gedenktag: Zeitzeugin im Bundestag erinnert an verfolgte Minderheiten
Der Bundestag gedenkt anlässlich des Holocaust-Gedenktags den Opfern des Nationalsozialismus.
© Quelle: Reuters
Die Stiftung selbst ruft prinzipiell die Polizei und erstattet Anzeige, falls ein strafbares Verhalten vorliegt. „Unterhalb der Schwelle strafbaren Verhaltens gibt uns unsere Hausordnung die Möglichkeit, Personen der Gedenkstätte zu verweisen, die die Würde des Ortes und der Opfer missachten, etwa wenn sie rechtsextreme, antisemitische oder rassistische Positionen vertreten.“
Provokationen haben in der Gedenkstätte zugenommen
Auf eine Sache weist Wagner dann noch hin: „Geschichtsrevisionistische Provokationen“ unterhalb der Strafbarkeitsschwelle und Störungen von Führungen – „etwa durch Hinweise auf die angeblichen Verbrechen der Alliierten oder durch historisch falsche Analogien zu heutigem tatsächlichen oder angeblichen Unrecht“ – hätten in der Gedenkstätte Buchwald zugenommen. „Recht massiv haben wir solche Störungen, teils auch Beschimpfungen im Zusammenhang mit Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen erlebt“, sagt Wagner.
Schülerinnen und Schüler waren dabei allerdings eher nicht die Verursacher und Provokateure. Sondern ältere Besucherinnen und Besucher.
Dieser Artikel erschien zuerst auf „Dresdner Neueste Nachrichten”.