Hitler-Bart für Erdogan bringt Schüler ins Gefängnis
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Recep Tayyip Erdogan kurz nach seiner erneuten Vereidigung als Präsident der Türkei.
© Quelle: Getty Images
Mersin. Ein 16-jähriger Schüler muss sich in der Türkei wegen „Präsidentenbeleidigung“ vor Gericht verantworten, weil er auf einem Wahlplakat das Porträt des Staatschefs Recep Tayyip Erdogan mit einem Hitler-Bart verunzierte.
Malereien auf Wahlplakaten sind nicht ungewöhnlich – mal als unbedachte Kritzelei, mal als eine Form des politischen Protests. Was in anderen westlichen Ländern Heiterkeit oder Kopfschütteln auslöst, kann in der Türkei schnell ins Gefängnis führen. Das zeigt der Fall des 16-jährigen Salih S. (Name von der Redaktion geändert). Die Polizei in der südosttürkischen Hafenstadt Mersin nahm den Schüler am vergangenen Dienstag fest, weil er dem Präsidenten Erdogan auf einem Wahlplakat mit einem Filzstift einen Hitler-Bart angemalt hatte. Mit Aufzeichnungen einer Sicherheitskamera konnte Salih S. als Täter identifiziert werden. Polizisten nahmen den Schüler wenige Stunden später in der Wohnung der Familie fest und brachten ihn in ein Jugendgefängnis.
Bärte sind in der Türkei ein politisches Bekenntnis
Erdogan trägt zwar einen Oberlippenbart. Aber der ist grau, kurz geschoren und hat ein anderes Format als der schwarze, eher buschige und nur nasenbreite Schnauzbart Hitlers. Auch wenn Erdogans Bart nicht entfernt an den Hitlers erinnert: Manche Erdogan-Kritiker vergleichen mitunter die Entwicklung in der Türkei mit den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft in Deutschland.
Bärte sind in der Türkei ein politisches Bekenntnis. Vom wild wuchernden Vollbart über den modischen Dreitagebart bis zu den verschiedenen Schnurrbartvarianten, mal gezwirbelt, mal gestutzt: Bärte gibt es bei türkischen Männern in unzähligen Formen. Grundsätzlich gilt: Je länger der Bart, desto frommer der Träger. Kenner der Materie glauben aus der Form der Barttracht herauslesen zu können, ob jemand den ultranationalistischen Grauen Wölfen, einer bestimmten islamistischen Sekte oder der Regierungspartei AKP nahesteht. Dort ist vor allem der kurzgeschorene Oberlippenbart à la Erdogan en vogue. Aber auch fülligere, weiter nach unten gezogene Versionen sind anzutreffen, wie das Beispiel des neuen Geheimdienstchefs Ibrahim Kalin zeigt.
Viele säkulare Türken verzichten dagegen bewusst auf den Bart. Sie dokumentieren mit der allmorgendlichen Rasur ihren westlichen Lebensstil – wie Mustafa Kemal, der spätere Atatürk. Er rasierte zur Gründung der von ihm ausgerufenen weltlichen Republik demonstrativ seinen Schnurrbart, den er als Offizier getragen hatte, ab – für immer.
Es drohen bis zu vier Jahre Haft
Bei aller geduldeten Vielfalt: Mit dem angemalten Hitler-Bart ist für die türkische Justiz offenbar eine rote Linie überschritten. Salih S. drohen nach Paragraf 299 des Strafgesetzbuches bis zu vier Jahre Haft.
Gegen rund 175.000 Menschen hat die Justiz seit Erdogans Amtsantritt wegen Präsidentenbeleidigung ermittelt. Sogar Kinder lässt Erdogan verfolgen: Im April erhob die Justiz Anklage gegen einen 13-Jährigen, weil er Erdogan auf Whatsapp beleidigt haben soll. Es kann auch Urlauber treffen. Im November 2020 wurde der Wuppertaler Arzt Kristian B. am Flughafen von Antalya festgenommen, weil er sich in einem Wortwechsel beleidigend über Erdogan geäußert haben soll. Der Arzt verbrachte einen Monat im Polizeiarrest, bevor er ausreisen durfte.