Historiker zum Ende der Stasi-Unterlagen-Behörde: „Die Gegner der Aufarbeitung feiern“

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Berlin. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, 1967 in Ost-Berlin geboren, war Mitglied der Enquete­kommission SED-Diktatur des Deutschen Bundestages 1995 bis 1998 und arbeitet seit 2001 in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde.

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Im Frühjahr 2018 wurde der Autor zahlreicher Bücher beurlaubt, um eine Biografie über Walter Ulbricht zu schreiben. Zuletzt war Kowalczuk Mitglied der Regierungskommission „30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit“.

Herr Kowalczuk, die Stasi-Unterlagen-Behörde schließt und schlüpft unter das Dach des Bundesarchivs. Wie empfinden Sie das – als langjähriger Angestellter?

Ich hänge nicht so stark an Institutionen – sie haben einen Zweck. Wenn dieser erfüllt ist, kann auch die Institution weg. Italien hatte seit 1944 keine Kolonien mehr, aber noch bis 1953 ein Kolonialministerium. Solcherart Beharrungs­vermögen ist bestenfalls komisch. Hat sich der Zweck der Stasi-Unterlagen-Behörde erfüllt? Nein, jedenfalls nicht, wenn wir den Gesetzestext ernst nehmen. Im Gesetz heißt es nämlich, Auftrag der Behörde sei, die MfS-Unterlagen zu erschließen und die Öffentlichkeit über die Tätigkeit des MfS zu unterrichten.

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Beides ist nach Bekundungen aller Entscheidungsträger nicht abgeschlossen und soll fortgeführt werden. Das Argument, nun erst unter dem Dach des Bundesarchivs könnten die Akten langfristig gesichert werden, ist angesichts der fast 30-jährigen Existenz der Behörde etwas kurios und entwertet auch die geleistete Arbeit.

Die Behörde wird geschlossen, weil es Einzelne aus Gründen wollten, die nichts mit dem eigentlichen Auftrag zu tun haben, und weil die meisten politischen Entscheider schlichtweg nicht durchsehen. Natürlich war das Bundesarchiv gut beraten, zuzugreifen. Den Akten wird es dort gut gehen, nicht besser, nicht schlechter.

Die Behörde gilt als Kind der Bürgerrechts­bewegung und als Frucht des Sturms auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 – mit Recht?

In der Behörde hatten Bürgerrechtler – abgesehen von ihren Chefs, die alle drei Bürgerrechtler waren – wenig zu sagen. Jürgen Fuchs hat in seinem ungerechten Buch „Magdalena“ ein gerechtes Bild dazu gemalt. Die Behörde war eine bürokratische Einrichtung – das war die Bürgerrechts­bewegung nun gerade nicht. Mit abweichenden Meinungen ist die Behörde umgegangen wie jede andere auch. Die Akten blieben offen, das war das Verdienst einiger Bürgerrechtler; die Art und Weise aber hatte sich kaum jemand so vorgestellt. Bürgerrechtler sind auch ganz bewusst eher nicht eingestellt worden. Es gab Ausnahmen, die meisten von ihnen hatten jedoch Probleme mit dem Apparat.

Die 1990er-Jahre wurden dann dominiert von den prominenten Stasi-Fällen von Ibrahim Böhme über Wolfgang Schnur bis Knud Wollenberger. Dabei rückte die beherrschende Stellung der SED in den Hintergrund. Wurde die Stasi so nicht größer gemacht, als sie war?

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Da besteht für mich keine Frage: Die DDR war kein Stasi-Staat, sondern eine SED-Diktatur. Die Stasi war ein Herrschaftsinstrument unter mehreren. Das MfS war allein der SED verpflichtet. Jeder SED-Kreissekretär hatte mehr Macht als ein Stasi-Kreisdienststellenleiter. In der Öffentlichkeit herrschen andere Bilder vor. Das hing auch damit zusammen, dass fast jeder Enttarnte, gerade prominente Politiker, logen, dass sich die Balken bogen – und häufig die Medien übertrieben und jagten, als ginge es um Krieg und Frieden. Die bloße Existenz der Behörde hat das alles verstärkt, obwohl sie vor allem in den 2000er-Jahren gegenzusteuern versuchte.

Der Eingang des Stasi-Museums im Haus 1 der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Der Eingang des Stasi-Museums im Haus 1 der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Welche Bedeutung hatten die Stasi-Akten und die Behörde für den ostdeutschen Otto Normalverbraucher, wenn er nicht selbst eine Akte hatte?

In den 1990er- und 2000er-Jahren kam niemand an der Stasi vorbei. Seit 2011 ist das Thema fast komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden. Und wenn, dann spielte die Behörde in den öffentlichen Debatten keine Rolle.

Manch gelerntem DDR-Bürger schien es, als seien die Akten ein Instrument, um missliebige Ostdeutsche aus führenden Stellungen zu verdrängen.

Das kam in den 1990er-Jahren vor, keine Frage. Zuletzt war es im Fall des Berliner Staatssekretärs Andrej Holm zu beobachten. Ich bin kein Fan der SED/PDS, aber die Vorwürfe gegen Holm wegen seiner kurzen Zeit als Hauptamtlicher beim MfS als 18-Jähriger waren absurd. Das war ein Beispiel für politische Instrumentalisierung von Vergangenheit heute. An den vielen Überspitzungen im Umgang mit Stasi-Unterlagen trug übrigens die Behörde nur in seltenen Fällen die Schuld. Aber auch sie musste natürlich in den 1990er-Jahren zunächst lernen.

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Welche Bedeutung hatten die Akten für den Westen?

Durch die Offenlegung der Stasi-Akten musste die bundesdeutsche Geschichte nicht, wie manche getönt hatten, neu geschrieben werden. Es gibt in der Freiheit im Übrigen immer Verräter der Freiheit. So paktierten auch ein paar Tausend Westdeutsche in 40 Jahren aus welchen Gründen auch immer mit der Stasi. Verräter gibt es überall, schauen Sie nur heute, wie viele Verrückte in der Freiheit glauben, sie lebten in einer Diktatur, und dabei Wladimir Putins Reich verherrlichen.

Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit.

Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit.

Der dritte und letzte Behördenleiter Roland Jahn hat den Satz geprägt: „Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.“ Doch im 31. Jahr der deutschen Einheit scheint die Demokratie in Ostdeutschland vielerorts so gefährdet wie nie, was sich vor allem an den Wahlergebnissen der AfD ablesen lässt. Ist der Satz falsch? Oder ist die Aufarbeitung gescheitert?

Wer Diktaturen begriffen hat, muss noch lange kein Demokrat werden. Die meisten Diktatoren haben Demokratie genauso gut begriffen wie Diktaturen. Demokratie bedarf keiner Negativfolie. Der politische Auftrag an die Aufarbeitung der SED-Diktatur lautete, die Demokratie zu stärken. Heute neigt fast jeder zweite Ostdeutsche zu autoritären Staatsformen. Rassismus ist noch weiter verbreitet. Daran gemessen steckt die Aufarbeitung in den Kinderschuhen. Doch wir wissen auch nicht, wie es aussähe, hätte es die bisherige Aufarbeitung nicht gegeben. Für mich steht fest: Ein Großteil der Aufarbeitung ging über die ostdeutsche Gesellschaft hinweg, erreichte sie nicht. Das hatte unter anderem mit der Selbstgefälligkeit solcher „Aufarbeiter“ zu tun, wie ich selbst einer bin.

Was hätte besser laufen können, ja laufen müssen?

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Das weiß ich nicht. Nach Revolutionen müssen die Fakten auf den Tisch. Die will aber kaum jemand hören, weil Diktaturen Mitläufergesellschaften sind, die nach dem Sturz der Diktatur an ihre systemstabilisierende Haltung nicht erinnert werden möchten.

Wenngleich die Akten ins Bundesarchiv übergehen, bleiben sie immer noch da. Bergen die Akten Ihrer Einschätzung nach noch größere Geheimnisse? Oder sind sie im Wesentlichen auserzählt?

Geheimnisse – das kommt immer auf die Fragestellung an. Jede Generation stellt an die Vergangenheit ihre eigenen Fragen und wird daher auch von den eigenen Antworten überrascht. In den übrig gebliebenen 15.500 Säcken mit zerrissenen Akten jedenfalls lauern keine Sensationen, die die Öffentlichkeit interessieren könnten. In der Behörde ist ziemlich genau bekannt, was in den Säcken noch liegt. Nach meiner Einschätzung lohnte aus verschiedenen Gründen die Rekonstruktion von etwa 10 Prozent dieser Säcke.

Ist die Schließung der Behörde der zu erwartende Schlussstrich? Und wenn sie einer ist: Hätte er nicht auch sein Gutes?

Ich bedauere die Schließung der Behörde sehr. Allerdings ist das, was die Behörde in den 1990er- und 2000er-Jahren auszeichnete – vom Gesetzgeber vorgegebene öffentlichkeits­wirksame Bildungs- und Forschungsarbeit – schon vor einigen Jahren stark abgebaut worden. Einen Schlussstrich wird es nicht geben. Denn es gibt ja noch mehr Einrichtungen als die Behörde. Die Schließung bedeutet eine Zäsur, die unnötig ist. Die Gegner der Aufarbeitung feiern jedenfalls.

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