Hetzjagd-Debatte in Chemnitz: Wer jetzt unter Druck gerät
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Nach dem tödlichen Messerangriff auf dem Chemnitzer Stadtfest im vergangenen Jahr war die Polizei in Alarmbereitschaft.
Berlin. Hetzjagd oder nicht? Darüber entspann sich vor einem Jahr eine hitzige Debatte, wenn es um die - unbestreitbar vorgefallenen Ausschreitungen und Angriffen - in Chemnitz Ende August ging. Nun haben NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung die Chatprotokolle von Rechtsextremen ausgewertet und Belege dafür gefunden, dass sie sich zu gezielten "Jagden" auf Migranten und vermeintlichen Migranten verabredet hatten. Entsprechend wortkarg reagieren nun jene Politiker, die seinerzeit behaupteten, es habe keine Hetzjagd stattgefunden.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) etwa wollte sich zum Inhalt der Chats und seiner heutigen Sicht auf die Hetzjagddebatte gar nicht äußern. In seiner allgemein gehaltenen Antwort an den Rechercheverbund heißt es, Hass auf politisch Andersdenkende hätten keinen Platz in unserer Gesellschaft.
Verfassungsschutz-Chef über Wort-Streit gestolpert
Auch der entlassene Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, dessen Zerwürfnis mit der Bundesregierung im Streit über das Wort "Hetzjagden" seinen Ursprung hatte, sei von den Reportern über den Inhalt der Recherchen informiert worden, schrieb der NDR in einer Pressemitteilung. Maaßen sei demnach zu keiner eindeutigen Beurteilung gekommen, habe aber Konsequenzen für die Verfasser der Chats gefordert. Es sei zwar von Jagd gesprochen worden, "aber ich weiß nicht, ob eine Person einer anderen Person oder einzeln anderen Personen nur nachgestellt hatte. Insoweit wäre es für mich nicht diese Hetzjagd", sagte Maaßen.
Hetzjagden sehe er nach wie vor nicht belegt, zumindest nicht am ersten Demonstrationstag und in dem prominenten Video. Er habe aber eingeräumt, dass er vor einer Einschätzung seine Fachabteilung und Polizeibehörden konsultiert hätte, wären ihm diese Chats bekannt gewesen. "Das wäre natürlich in die Bewertung eingeflossen, und ich hätte so etwas nicht ohne eine Bewertung der zuständigen Kollegen abgegeben", so Maaßen.
So äußerten sich Politiker vor einem Jahr
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte das Wort seinerzeit im Zusammenhang mit den Ausschreitungen nach einer AfD-Kundgebung benutzt: "Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun."
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte die Berichterstattung dafür kritisiert, dass sie das Wort "Hetzjagd" verwendet hatten. „Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome“, hatte der Ministerpräsident bei seiner Regierungserklärung vor dem Sächsischen Landtag gesagt. Er hinterfragte zudem Meldungen, denen zufolge Gruppen von Rechtsextremen Menschen mit Migrationshintergrund durch die Stadt gejagt hätten.
Maaßen hatte sich vor einem Jahr in der "Bild"-Zeitung kritisch zu der Verwendung des Begriffs "Hetzjagd" geäußert: "Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz werden von mir geteilt. Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben."
Horst Seehofer hatte sich Maaßens Urteil angeschlossen
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, sein Informationsstand sei mit dem von Maaßen identisch und sprach dem damaligen Verfassungsschutzpräsidenten kurz nach dessen Äußerungen sein Vertrauen aus.
Das Video, das im Zusammenhang mit den Vorfällen kursierte und eine Attacke von Rechten auf Menschen mit Migrationshintergrund zeigt, nannte Maaßen nicht authentisch. Er vermutete sogar: "Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken."
Zu Übergriffen war es vor allem am 26. und 27. August sowie am 1. September 2018 gekommen, nachdem am Rande des Stadtfestes in den frühen Morgenstunden des 26. August ein Mann durch Messerstiche tödlich verletzt worden war. Rechte Gruppen hatten aufgrund von Meldungen, der oder die mutmaßlichen Täter hätten einen Migrationshintergrund, zu Demonstrationen aufgerufen. Aus deren Reihen und an deren Rande wurden oder vermeintliche Migranten, Gegendemonstranten, Polizisten sowie Pressevertreter und unbeteiligte Passanten sowie ein jüdisches Restaurant angegriffen. Die Verletzungen und Sachschäden sind dokumentiert.
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lin/RND/dpa