Nancy Faeser und ihre Kandidatur in Hessen: „Herzenssache“ mit Grenzen
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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Freitag im hessischen Friedewald.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Berlin. Für Nancy Faeser ist die Spitzenkandidatur eine „Herzenssache“, ja sogar „eine große Herzenssache“. Hessen, sagt die Bundesinnenministerin, „ist meine Heimat.“
Nun könnte man einwenden, dass das Bundesministerium des Inneren und für Heimat demnach nicht die Herzenssache seiner Chefin sein kann – obwohl es mit über 2.000 Beamtinnen und Beamten sowie etwa 80.000 weiteren Bediensteten in 20 nachgeordneten Behörden zu den größten und wichtigsten Ministerien überhaupt zählt. Doch darin will Faeser kein Problem sehen. Immerhin hätten auch der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) in diesen Positionen für etwas anderes kandidiert, befand die Vorsitzende der hessischen SPD, die jetzt für ihre Partei in den Landtagswahlkampf zieht. Beide wollten bekanntlich Kanzler werden. Was sie tue, sei kein Anlass für Kritik.
Auf den Spuren des Vaters
Sicher ist: Was in Wiesbaden und Berlin seit Monaten mindestens gemutmaßt wird, geschieht nun tatsächlich. Die 52-jährige Juristin aus Schwalbach im Taunus, die am 8. Dezember 2021 zur ersten Bundesinnenministerin der deutschen Nachkriegsgeschichte aufstieg, teilte 421 Tage später mit, dass sie jetzt doch lieber etwas anderes werden möchte – Ministerpräsidentin in Hessen. Sie tat dies am Donnerstag überraschend erstmals öffentlich in Berlin und bekräftigte es am Freitag wie erwartet im osthessischen Friedewald. Die Nachricht sorgt im Berliner Regierungsviertel für Aufregung. Dies gilt umso mehr, da Faeser als Ministerin nicht zurücktritt, sondern beides unter einen Hut zu bringen gedenkt.
Aus hessischer Sicht ist der Fall klar. Nancy Faeser hat in Frankfurt am Main Rechtswissenschaften studiert. Sie legte dort ihr erstes und zweites Staatsexamen ab und zog am 5. April 2003 in den Wiesbadener Landtag ein, um dort bis zum Wechsel nach Berlin zu bleiben. Sieht man von einem Auslandssemester in Kalifornien ab, ist die verheiratete Mutter eines Sohnes nie aus Hessen herausgekommen – bis sie Bundesinnenministerin wurde. Etwas anderes kommt hinzu: Ihr Vater Horst Faeser, der 2003 mit nur 61 verstarb, war ebenfalls Sozialdemokrat und 14 Jahre lang Bürgermeister jener Stadt, in der sie bis heute wohnt: in Schwalbach im Taunus.
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Nie aus Hessen rausgekommen
Dass Hessen für Nancy Faeser eine „Herzenssache“ ist, lässt sich also schwer bestreiten. Das Bild wird noch dadurch abgerundet, dass sie leidenschaftlich jenem Fußballklub anhängt, der in dem hügeligen Bundesland für anhaltende Begeisterung sorgt: Eintracht Frankfurt.
Doch selbst wenn es anders wäre: Faeser ist seit 2019 Nummer eins der hessischen SPD. Und weil es dort nach allgemeiner Einschätzung kein anderes Parteimitglied gibt, das bei der Landtagswahl am 8. Oktober mit Aussicht auf Erfolg gegen den christdemokratischen Ministerpräsidenten Boris Rhein und den grünen Vizeministerpräsidenten Tarek Al-Wazir antreten könnte, scheint sie es höchstpersönlich machen zu müssen. Sonst gäbe die Hessen-SPD, die in der letzten validen Umfrage bei 22 Prozent und damit 5 Prozentpunkte hinter der CDU lag, den Urnengang bereits heute verloren.
Was aus hessischer Perspektive vielen einleuchtet, stellt sich aus bundespolitischer Sicht ganz anders dar – nicht zuletzt, weil die Bundesinnenministerin eine ganze Weile gebraucht hat, um in jenes Amt zu finden, das sie jetzt wieder zur Disposition stellt.
Durch „One-Love“-Binde profiliert
Zwar erhielt Faeser eine Menge Zuspruch, als sie sich beim Auftaktspiel der deutschen Mannschaft während der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar die „One-Love“-Binde über den linken Oberarm zog – jene Binde, die das deutsche Team auf Geheiß der Fifa nicht tragen durfte. Das Foto ging um die Welt. Den Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine glaubte sie anfangs aber, dem Selbstlauf überlassen zu können – und schwenkte erst mit Verzögerung auf eine zentrale Verteilung um.
Als Faeser mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die ukrainische Hauptstadt Kiew besuchte, machte ein Foto mit Sektgläsern die Runde. Eine Entschuldigung folgte. Schließlich waren da zwei Personalien, bei denen die Ministerin keine gute Figur abgab. Den Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, schickte sie in die Wüste, obwohl die Belege für behauptete Russland-Kontakte eher dünn waren. Der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, amtiert hingegen unverändert. Dabei gilt er als Intimus des einstigen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen und war Kandidat Nummer eins für einen Rausschmiss.
Rasch entstand ferner der Eindruck, dass Faeser viel ankündigte, aber wenig umsetzte. Beobachter führten das auf die Beschaffenheit des eher konservativen Hauses zurück, in dem Staatssekretäre, Abteilungsleiter und Unterabteilungsleiter nicht so wollten wie ihre neue Vorgesetzte. Schließlich war deren Vorgänger Horst Seehofer von der CSU aus einem ganz anderen Holz geschnitzt.
Erst nach der Sommerpause ging es Schlag auf Schlag. Derzeit befinden sich fünf zentrale Gesetze in der Abstimmung mit anderen Ministerien: das Gesetz zur erleichterten Fachkräfteeinwanderung, das Gesetz zum erleichterten Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, die Verschärfung des Waffenrechts, das neue Bundespolizeigesetz sowie die Reform des Disziplinarrechts, um Extremisten schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen zu können. Das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht und das Gesetz zur Beschleunigung der Asylverfahren traten zum Jahreswechsel in Kraft. Das Demokratiefördergesetz wird derzeit vom Bundestag beraten.
Mit Robustheit durchgebissen
Faeser hat sich durchgebissen. Wo es Not tut, räumt sie auch mal alte Positionen. Als neben den Geflüchteten aus der Ukraine wieder mehr Asylsuchende aus dem Mittleren Osten nach Deutschland gelangten, sagte sie: „Unser gemeinsames Ziel ist es, die steigende irreguläre Migration über die Westbalkanroute einzudämmen.“ Das schloss die Verlängerung von Grenzkontrollen zu Österreich ein. Nach den Silvesterkrawallen in Berlin und andernorts tat die Sozialdemokratin kund: „Wir haben in deutschen Großstädten ein großes Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden.“ Beides gefiel konservativen Kreisen.
Wo sie politisch mal nicht so überzeugen kann, kommt Faeser mit einem stets freundlichen und bisweilen jovialen Auftreten weiter. Da gibt es vor Ausschusssitzungen schon mal Umarmungen.
Die aktuellen Debatten, ob Nancy Faeser als Spitzenkandidatin antreten dürfe oder es eher lassen sollte, haben jedenfalls andere Gründe. Da mischen sich Sachargumente mit Parteiinteressen.
Sachargumente und Parteipolitik
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte, dass ein Landtagswahlkampf viel Kraft und Zeit koste; beides könne die Kollegin in ihrem Amt nicht aufbringen. „Gleichzeitig darf das Bundesinnenministerium nicht zur PR-Maschine für die politischen Ambitionen von Nancy Faeser in Hessen werden.“ Die grüne Fraktionsgeschäftsführerin Irene Mihalic gab sich ebenfalls skeptisch. „Das Bundesinnenministerium ist eins der größten Häuser der Bundesregierung und braucht die volle Aufmerksamkeit“, sagte sie. Ein FDP-Politiker, der namentlich nicht genannt werden will, betonte mit Blick auf die Arbeit des Ministeriums: „Es ist im ersten Jahr zu wenig passiert. Jetzt ballt es sich etwas. Wenn sie da nur noch mit halber Kraft tätig wäre, dann wäre das schlecht.“
Parteifreunde verteidigen Faeser hingegen. So sagte Thüringens Innenminister Georg Maier: „Nancy Faeser ist eine sehr gute Spitzenkandidatin. Sie hat als Innenministerin bewiesen, dass sie eine herausfordernde Aufgabe meistern und ein großes Ministerium führen kann. Aus der Innenministerkonferenz kenne ich sie als fachkundig, zupackend, empathisch und humorvoll. Sie wird dort auch von den Kollegen der Union geachtet und ihre Verbindlichkeit geschätzt.“ Die Diskussion um Faesers Doppelrolle nannte der SPD-Politiker „vorgeschoben“. Schließlich sei es „völlig normal, dass sich Politikerinnen und Politiker aus Ämtern heraus in Wahlkämpfe begeben, ohne diese Ämter aufzugeben“. Der Kanzler stärkte der Kandidatin schon am Donnerstag den Rücken mit den Worten, sie sei großartig und werde „jeden Tag alles tun für die Aufgabe, die sie hat“.
SPD-Chef Lars Klingbeil schweigt
Vom SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil ist eine solche Solidaritätsadresse übrigens nicht überliefert. Und das hat einen Grund. Denn er hält von dem Versuch Faesers, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, dem Vernehmen nach wenig.
Im Ministerium selbst herrscht eine gewisse Unruhe. Wichtige Vorhaben forderten „eigentlich den vollen Einsatz der Ministerin“, heißt es dort. Und wenn Faeser sich auf die Doppelbelastung einlasse, dann werde „ein deutlicher Bedeutungsverlust“ des Hauses befürchtet.
Was die Stimmung dort etwas aufhellen könnte, ist allein der Umstand, dass Nancy Faeser im Falle einer Wahlniederlage nicht nach Wiesbaden zurückkehren will – und zwar mit der Begründung, Oppositionsführerin sei sie ja schon gewesen.
Im Falle einer Niederlage muss die „Herzenssache“ Hessen sehen, wie sie klarkommt.