Kassenchefin: Was haben die Kliniken mit den Corona-Milliarden gemacht?
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Die Krankenkassen sind tief im Minus.
© Quelle: imago images/Enters
Berlin. Doris Pfeiffer ist die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. Die 61-Jährige führt den Verband seit 2007. Er ist die oberste Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Der Spitzenverband verhandelt für alle Kassen beispielsweise Verträge mit Ärzten und Kliniken.
Frau Pfeiffer, die Delta-Variante des Coronavirus breitet sich weiter aus. Wie besorgniserregend ist das für Sie als oberste Kassenchefin?
Ich beobachte die Entwicklung natürlich sehr genau. Doch die Prognosen muss auch ich den Epidemiologinnen und Epidemiologen überlassen. Ich kann nur hoffen, dass die Delta-Variante nicht zu einem ernsten Rückschlag führt. Unser Job als Kassen-Spitzenverband ist es jedenfalls dafür zu sorgen, dass – ich sage das mal flapsig – der Laden läuft. Und das unabhängig von den konkreten Umständen. Dazu haben wir ja eine Vielzahl von Regelungen getroffen, etwa zur Kontaktvermeidung durch telefonische Krankschreibungen oder Videosprechstunden. In dieser Krise hat die Selbstverwaltung gezeigt, was sie kann.
Halten Sie zum Beispiel die telefonische Krankschreibung weiter für notwendig?
Ja, wir sollten weiterhin sehr vorsichtig sein, trotz des Impffortschritts. Die neuen Varianten müssen uns Sorgen machen. Deshalb muss es weiter darum gehen, Ansteckungen zu vermeiden, auch wenn das Gesundheitswesen, nicht zuletzt Dank des großen Engagements der Pflegekräfte und der Ärztinnen und Ärzte, die Herausforderungen gut gemeistert hat.
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Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands.
© Quelle: imago stock&people
Nicht alles ist im Gesundheitssystem offenbar rund gelaufen. Es gibt den Verdacht, dass Kliniken zu Unrecht Gelder für den Aufbau und die Freihaltung von Intensivbetten kassiert haben.
Noch weiß niemand, ob tatsächlich Kliniken zu Unrecht Geld genommen haben. Aber der Verdacht ist in der Welt, und deshalb braucht es Aufklärung. Das Problem ist, dass niemand einen Überblick darüber hat, wohin die Milliarden eigentlich geflossen sind und was genau damit gemacht wurde. Es herrscht völlige Intransparenz. Die Politik muss für Klarheit sorgen, denn die Länder haben die Gelder vom Gesundheitsfonds bekommen und dann an die Kliniken verteilt. Die Beitrags- und Steuerzahlenden haben ein Anrecht darauf, dass hier Transparenz geschaffen wird.
Für viele ist allerdings auch nicht nachvollziehbar, warum die Krankenkassen nach Jahren mit Milliardenüberschüssen plötzlich tief in den roten Zahlen sind. Das kann ja nicht alles auf die Pandemie zurückzuführen sein, zumal ja weniger Menschen zum Arzt gegangen sind?
Wir haben es mit mehreren, sich überlagernden Entwicklungen zu tun. Den größten Anteil haben kostenträchtige Reformen der letzten acht Jahre, von denen leider weniger die Versicherten profitiert haben, sondern vielmehr Ärztinnen und Ärzte, Kliniken oder Apotheken durch höhere Vergütungen. Das fällt uns allen jetzt auf die Füße. Und wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Krankenkassen in diesem Jahr aus ihren Rücklagen 8 Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds überweisen müssen, um ihn zu stützen.
Wie sieht die Lage konkret aus?
In diesem Jahr dürfte sich das Defizit gegenüber 2020, als der Fehlbetrag 2,65 Milliarden Euro betragen hat, deutlich erhöhen, im schlimmsten Fall sogar verdoppeln. Im nächsten Jahr rechnen wir dann schon mit einem Minus von rund 15 Milliarden Euro.
Obwohl die Bundesregierung mit einem kräftigen Anziehen der Konjunktur rechnet?
Leider ja. Die Ausgaben steigen dennoch deutlich schneller als die Einnahmen.
Das heißt, dass der bereits von der Regierung beschlossene zusätzliche Steuerzuschuss zu klein ist?
Wir gehen davon aus, dass diese zugesagten zusätzlichen 7 Milliarden Euro nicht ansatzweise ausreichen. Die Bundesregierung muss nachlegen. Es ist ja vereinbart, dass noch vor der Wahl Ende August, wenn genauere Zahlen vorliegen, die Lücke bestimmt und dann vom Bundestag ein höherer Bundeszuschuss beschlossen wird. Ich erwarte von der Regierung, dass sie sich an diese Zusage hält. Ansonsten drohen Anfang 2022 kräftige Beitragsanhebungen. Dann wäre das von der Politik ausgegebene Ziel, die Sozialbeiträge insgesamt unter 40 Prozent zu deckeln, nicht mehr zu halten.
Alternativ könnte eine Regierung wie in der Vergangenheit versuchen, mit eilig beschlossenen Vorschaltgesetzen die Leistungen für die Versicherten zu kürzen.
Davor kann ich nur warnen. Es wäre völlig unangebracht, bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten zu sparen. Wir brauchen stattdessen grundlegende Reformen bei den Strukturen der medizinischen Versorgung, um effizienter zu werden.
Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung?
Wir wollen einen verlässlichen und dynamisierten Bundeszuschuss zur Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen. Eine Gesundheitsversorgung nach Haushaltslage darf es nicht geben. Es muss wie in der Rentenversicherung gesetzlich klar geregelt werden, was originäre Aufgaben der Krankenversicherung sind und was gesamtstaatliche Aufträge, die dann richtigerweise aus Steuermitteln finanziert werden müssen.
Nennen Sie bitte Beispiele!
Ich beginne mal andersrum: Klar ist für uns, dass zum Beispiel die kostenfreie Mitversicherung der Kinder zum Kern der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Gleichzeitig kann nicht sein, dass die Beitragszahlenden die zu geringen Zahlungen des Bundes für ALG-II-Beziehende ausgleichen müssen. Da sprechen wir über eine Größenordnung von 10 Milliarden Euro.
Welche weiteren Reformen fordern Sie?
Anders als von Vertretern der Kliniken behauptet, hat gerade die Pandemie gezeigt, dass die Krankenhauslandschaft eben nicht so leistungsfähig und effizient ist, wie sie sein könnte. Wir brauchen eine flächendeckende Grundversorgung und eine gute Spezialversorgung und nicht, dass alle alles machen wollen. Zudem muss die Behandlung im Krankenhaus und den Arztpraxen besser miteinander verzahnt werden. Umso bedauerlicher ist es, dass zum Beispiel die Notfallversorgung anders als geplant nicht mehr in dieser Wahlperiode reformiert wird.
Das führt zu der Frage: Wie bewerten Sie zum Ende der Wahlperiode die Arbeit von Gesundheitsminister Jens Spahn?
Herr Spahn war fleißig und hat uns alle auf Trab gehalten, keine Frage. Für ein abschließendes Urteil ist es aber zu früh, weil einige seiner Gesetze wegen der Pandemie noch gar nicht richtig wirken. Aber wie ich schon sagte: Die Kosten steigen schneller als der Mehrwert für die Patientinnen und Patienten.