Unplugged in Stuttgart: Wenn der Herr Kretschmann aufs Blech haut
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Wenn er will, kommt er aus sich heraus: Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
© Quelle: Christoph Schmidt/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
Winfried Kretschmann ist ein Mann mit Autorität. Das merkt man spätestens, wenn man ihm gegenübersteht. Die Aura, die den Ministerpräsidenten umweht, hat mit seiner Lebenserfahrung und seinem Alter zu tun – er ist 73 Jahre alt –, mit seiner Körpergröße von immerhin 1,93 Metern, seinen grünen Wahlerfolgen im tiefschwarzen Baden-Württemberg sowie nicht zuletzt seinen klaren Ansagen, die einen unerschrockenen Mann zeigen.
Nicht selten nehmen sie den Charakter von Wutausbrüchen an. Dann wirkt Kretschmann wie ein Vulkan – oder wie der Vater, dessen Kinder wochenlang ihr Zimmer nicht aufgeräumt haben und dem es jetzt endgültig reicht.
Legendär ist, wie der Regierungschef beim Grünen-Parteitag im Juni 2017 aus der Haut fuhr – in einem Gespräch mit dem Bundestagsabgeordneten Matthias Gastel, bei dem er sich unbeobachtet wähnte. Damals sprach Kretschmann mit Blick auf den Beschluss, nach 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen, von einem „Schwachsinnstermin“ und griff Anton Hofreiter an, den damaligen Fraktionschef der Grünen, indem er sagte: „Jetzt kommt der Hofreiter immer mit seiner tollen Story vom Tesla.“ Es war Kretschmann unplugged. Und es war sehr unterhaltsam.
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Winfried Kretschmann beim Bundesparteitag der Grünen im September 2021 – eine Woche vor der Bundestagswahl.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Vor zehn Tagen war wieder Parteitag, nur diesmal digital. Eigentlich lautete die Verabredung, zum durchwachsenen grünen Bundestagswahlergebnis von 14,8 Prozent nichts zu sagen. Nur: Kretschmann hielt sich nicht dran. Er rief vielmehr dazu auf, aus „Fehlern“ zu lernen, „die wir im Bundestagswahlkampf gemacht haben“, auch wenn man damit „nicht Mitarbeiter des Monats“ werde.
So müssten die Grünen ihre Veränderungsbotschaft künftig durch eine Botschaft für mehr Sicherheit ausbalancieren. Das hätten sie „nicht ausreichend getan“. Auch müssten sie für alle wichtigen Felder der Politik „die Richtung vorgeben“; stattdessen hätten sich die Grünen „im Wahlkampf zu klein gemacht“. In der Regierung müsse die Partei schließlich „dafür sorgen, dass uns der Laden nicht auseinanderfliegt“.
Auch das macht Kretschmanns Aura aus: Er darf, was andere nicht dürfen. Widerspruch gibt es in der Regel nicht, selbst wenn Parteifreunde abweichender Meinung sind.
In der vorigen Woche machte der Ministerpräsident dann weitere Ansagen. Er tadelte das Parteiausschlussverfahren gegen Tübingens grünen Oberbürgermeister Boris Palmer, ohne ihn vorher selbst zur Räson gebracht zu haben. „Wer soll am Ende was dabei gewinnen? Die Frage muss man sich doch stellen“, sagte er der „Heilbronner Stimme“ und dem „Südkurier“. „Dies zeigt sich inzwischen ja immer deutlicher.“ Palmer will bei der kommenden OB-Wahl nun als unabhängiger Kandidat antreten.
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Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), Oberbürgermeister von Tübingen. Gegen ihn läuft ein Parteiausschlussverfahren.
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Deutschlands Virologen riet Kretschmann, sich aus der Politik doch bitte schön herauszuhalten. „Max Weber hat darauf verwiesen, dass Wissenschaften die Welt beschreiben, wie sie war, ist und sein wird. Sie können auch beschreiben, wie man die Welt verändern könnte. Aber die Wissenschaft kann nicht sagen, ob man die Welt auch verändern soll“, mahnte er. „Da ist manches verrutscht.“ Der 1920 gestorbene Soziologe Max Weber ist steter Gast in Kretschmann-Interviews.
Kretschmann gibt übrigens wenig Interviews. Er quatscht nicht in jedes Mikrofon. Doch wenn er etwas sagt, dann trifft es bei Bedarf Freund und Feind.
Ansonsten sind Kretschmanns Wutausbrüche janusköpfig. Sie sind einerseits patriarchalisch. Kretschmann weiß, wie man sich Respekt verschafft, und er macht von diesem Wissen Gebrauch. Bei den Grünen heißt es, da komme oft die Oberrealo-Haltung durch, die auf Baden-Württemberg passe, auf den Bund aber nicht immer.
Andererseits entspringen Kretschmanns Wutausbrüche echter Empörung. Echt empört kann wiederum nur sein, wer echte Überzeugungen hat. So gesehen ist das schmerzhafte Fehlen echter Wutausbrüche im Berliner Regierungsviertel, wo jedes Statement einem Kalkül folgt, ein Alarmsignal. Kretschmann zitiert da wieder gern Max Weber. Der habe von Leidenschaft zur Sache gesprochen.
Dem Ministerpräsidenten ist bewusst, dass er sich gelegentlich in einem Grenzbereich bewegt. In einem Interview sagte er mal: „Manchmal muss ich mich richtig zusammennehmen, dass ich nicht aufs Blech haue.“ Bei diesem Satz schmunzelte er spitzbübisch. Und es wirkte sehr sympathisch.
Politsprech
Früher kam Angela Merkel an und hielt den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand. So eine Führungsfigur gibt es im Moment nicht.
Recep Tayyip Erdogan,
Präsident der Türkei
Der türkische Präsident hat es nicht so mit emanzipierten Frauen. Da, wo Recep Tayyip Erdogan herrscht, tragen viele mittlerweile wieder Kopftuch – anders als früher. Frauen, die sich nicht fügen wollen, gehen bisweilen zum Demonstrieren auf die Straße, weil ihnen keine andere Möglichkeit bleibt.
Dass Erdogan nun ausgerechnet Sehnsucht nach Angela Merkel hat, wirkt da einigermaßen verlogen, zumal er früher, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, gern „ein Riesentheater“ veranstaltete, wie Merkel-Vertraute sagen. Freilich scheint es der Patriarch mit seiner Sehnsucht auch ein wenig ernst zu meinen. Für den neuen deutschen Kanzler Olaf Scholz ist das kein Kompliment.
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
© Quelle: dpa
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zum Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz bei US-Präsident Joe Biden schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“:
„Die kriegsmüde amerikanische Bevölkerung ist bereit, die Ukraine zu unterstützen, solange der Preis dafür nicht zu hoch ist. Am kostengünstigsten ließe sich Wladimir Putin durch ein geschlossenes Auftreten der Nato-Partner abschrecken. Doch genau dabei spielt mit der deutschen Regierung ein gewichtiges Mitglied nicht wirklich mit. Berlin tritt sowohl bei möglichen Wirtschaftssanktionen, einer Einstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 als auch bei Waffenlieferungen auf die Bremse. Die Zusage Berlins an Kiew über die Lieferung von 5000 Schutzhelmen ist im Prinzip ein schlechter Scherz.
Den Wunsch Amerikas nach einer härteren Haltung gegenüber China sieht Scholz ebenfalls skeptisch, auch wenn seine Regierung im Koalitionsvertrag einen schärferen Kurs gegenüber Peking verspricht. Vor allem der Konflikt um die Ukraine wäre indes eine gute Gelegenheit, den isolationistischen Kreisen in den USA vorzuführen, wie wertvoll das transatlantische Bündnis für Washington noch immer sein kann. Stattdessen bestätigt Berlin mit seiner Zurückhaltung bis jetzt den von Trump formulierten Vorwurf, Deutschland sei ein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer“.
Juristen halten Impfpflicht für vereinbar mit Grundgesetz
Kann eine allgemeine Impfpflicht wie in Österreich auch Deutschland aus der Corona-Dauerschleife führen? Immer mehr Länderchefs sind dafür.
© Quelle: dpa
Zum selben Thema schreibt die russische Tageszeitung „Kommersant“:
„US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz werden in Washington Gespräche führen. Der Besuch des deutschen Regierungschefs in der Hauptstadt des Verbündeten in Übersee findet in einer äußerst angespannten Atmosphäre statt. Dabei geht es nicht um die bilaterale Agenda, sondern um die Perspektiven der Beziehungen zu Moskau und die Krise um die Ukraine. In der Heimat des Bundeskanzlers befürchten viele, dass Berlin angesichts eines (nach westlicher Auffassung) drohenden Krieges schnell das Vertrauen Washingtons und seine Stellung auf der internationalen Bühne als zuverlässiger Verbündeter verliert.
Das Wort ‚Krieg‘ war in den vergangenen Tagen in den deutschen Medien immer häufiger zu hören, obwohl der Kreml und das russische Außenministerium wiederholt erklärt haben, dass keine Invasion vorbereitet werde.“
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