Eine Partei fällt ins Bodenlose
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Rücktritt nach nur 45 Tagen: Liz Truss.
© Quelle: IMAGO/UPI Photo
London. Liz Truss gab sich gern als legitime Nachfolgerin der früheren Premierministerin Margaret Thatcher. Wohlstand durch eine starke Wirtschaft, eine starke Wirtschaft durch niedrige Steuern. Hart in den Entscheidungen, visionär in der Argumentation, so die Leitlinie der beiden. Thatcher scheiterte 1990 nach gut elf Jahren im Amt an ihrer eigenen Politik. Truss benötigte dafür gerade einmal 45 Tage. Ein neuer Negativrekord: Kein regulärer britischer Regierungschef war je kürzer im Amt.
Wie lange kann sich ein neuer Premier halten?
Mit Truss’ Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin erlebt das Land bereits den dritten Regierungschef in diesem Jahr. Auch dies ist für ein politisch üblicherweise sehr stabiles Land wie das Vereinigte Königreich außergewöhnlich. Die wichtigste Frage aber ist nun: Wie lange kann sich ein neuer Premier überhaupt im Amt halten? Die Härte, mit der der jüngste parteiinterne Machtkampf geführt wurde, hat eines gezeigt: Die Konservative Partei ist unter Truss’ Vorgänger Boris Johnson endgültig in zwei Lager zerfallen. Und spätestens seit dessen Abgang heillos zerstritten.
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Unter diesen Umständen in den eigenen Reihen einen Kompromisskandidaten zu finden gleicht einer Quadratur des Kreises.
Wie zerfallen die konservative Fraktion ist, zeigte sich deutlicher denn je am Mittwochabend im Unterhaus. Die Abstimmung über den Fall eines Frackingverbots in Großbritannien mutierte zunächst parteiintern zu einer Vertrauensabstimmung über Liz Truss, was kurz darauf umgehend wieder dementiert wurde. Parallel hieß es in den Medien, die Fraktionschefs hätten frustriert das Handtuch geworfen, was die Tories erst spät am Abend abstritten. Es war von leichten Handgreiflichkeiten bei der Abstimmung die Rede und von Tränen. Einig waren sich am Ende nur die Kommentatorinnen und Kommentatoren: Solche Szenen hatte niemand von ihnen jemals zuvor in Westminster erlebt.
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Forderte wiederholt Neuwahlen: Keir Starmer, Vorsitzender der Labour-Partei.
© Quelle: Jessica Taylor/UK Parliament/AP/
Die Konservativen liegen 30 Prozentpunkte zurück
Bereits seit Tagen wird offen darüber diskutiert, dass die Konservativen, jene Partei, die Großbritannien über weite Epochen regiert hat, zu zerfallen droht. In Umfragen liegen sie derzeit ganze 30 Prozentpunkte hinter der oppositionellen Labour-Partei. Auch dies ist in der jüngeren Geschichte ein beispielloser Fall – womöglich ins Bodenlose. Wären in diesen Tagen Parlamentswahlen in Großbritannien, würden die Konservativen aufgrund des Mehrheitswahlrechts mit hoher Wahrscheinlichkeit großflächig aus dem Parlament gefegt. Noch bei den vergangenen Wahlen 2019 hatten sie im Unterhaus eine komfortable Mehrheit von 80 Sitzen erlangt.
Mit einem weiteren Wechsel in Downing Street versuchen die Konservativen nun einmal mehr, sich zu retten, während die Opposition naturgemäß immer öfter und immer lauter nach Neuwahlen ruft. Es tritt immer offener zu Tage, dass die Alternativen in der Tat rar werden.
Liz Truss hat die großen Aufgaben nicht durchdrungen
Wer glaubt, der dritte Regierungschef oder die dritte Regierungschefin des Jahres könne das Steuer endlich rumreißen, verschließt die Augen vor den wahren Problemen des Landes: Das Vereinigte Königreich steckt in einer seiner gravierendsten wirtschaftlichen und politischen Krisen der Nachkriegsgeschichte. Die Regierung hatte es kaum vermocht, die Summe der Auswirkungen von Pandemie und Brexit zu bewerkstelligen. Die Energiekrise potenzierte das Ganze noch einmal drastisch. Liz Truss, das wurde schnell deutlich, vermochte es nicht, die Komplexität dieser Aufgaben zu durchdringen.
Ob ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin erfolgreicher sein kann, ist nach den Erfahrungen der vergangenen Monate mehr als fraglich. Die nächsten britischen Unterhauswahlen stehen planmäßig erst 2024 an. Viele ahnen jedoch: Spätestens die Kommunal- und Nachwahlen, die im nächsten Jahr in einigen Regionen Großbritanniens abgehalten werden, könnten das Schicksal der Konservativen Partei endgültig besiegeln.