Gibt es den Ausschalter für die Pandemie?

Tausende junge Leute tanzten im Juli auf „Freedom Day“-Partys die Nacht durch, nachdem England fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben hatte.

Tausende junge Leute tanzten im Juli auf „Freedom Day“-Partys die Nacht durch, nachdem England fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben hatte.

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

erinnern Sie sich noch an das Leben im März 2020? Dieses mulmige Gefühl, dass bald eine beängs­tigende Verände­rung bevor­stehen könnte, lag bereits in der Luft. Spätes­­tens mit dem ersten Lock­­down war nichts mehr wie zuvor. Wie lange würde dieser Zustand wohl andauern, fragten wir uns damals auch in der Redak­tion. Ein paar Monate? Ein Jahr? Heute, mehr als einein­halb Jahre nach Beginn der welt­weiten Corona-Pandemie, ist die Diskussion um das Ende aktueller denn je.

Das Problem: Kann man eine Pandemie einfach so für beendet erklären? Groß­britan­nien hat den Versuch gewagt. Mit der Folge, dass das Land drei Monate nach dem „Freedom Day“ am 17. Juli heute Sieben­tage­inzidenzen jenseits der 400 hat. Auch die Nieder­lande, die zunächst nach einem verfrühten Lock­down­ende in die Delta-Welle liefen, wagten vor einem Monat den zweiten Versuch und schafften nahezu alle Corona-Regeln ab. Mittler­weile steigen die Inzidenzen auch dort wieder rasant.

Die Welt ist nicht in Ordnung, weil Minister das sagen.

Michael Hallek,

Leiter der inneren Medizin am Kölner Universitäts­klinikum

Muss eine Gesell­schaft also einfach lernen, mit dem Risiko zu leben? Meinen Kollegen Dirk Schmaler treibt diese Frage in seinem Leit­artikel um. Immerhin fordert Bundes­gesund­heits­minister Jens Spahn trotz einer immer noch zu niedrigen Impf­quote, die „pande­mische Lage nationaler Reich­weite“ demnächst zu beenden.

„Mit seiner Amts­zeit, so wünscht es Spahn, soll auch die Pandemie ein Ende finden.“ Gern würde man der Idee des Ministers zustimmen. Doch „vieles ist ungewiss“, gibt mein Kollege zu Recht zu bedenken. Die Impf­quote in Deutsch­land ist zu niedrig, um endlich die Korken zum „Freedom Day“ knallen zu lassen.

Pflegeverbände halten nichts von einem baldigen „Freedom Day“ und fordern zum Teil schärfere Maßnahmen.

Pflegeverbände halten nichts von einem baldigen „Freedom Day“ und fordern zum Teil schärfere Maßnahmen.

Hinzu kommt: Niemand weiß genau, wie viele Menschen wirklich geimpft sind – „ein büro­krati­sches Versagen, das auch Spahn zu verant­worten hat“. Und auch Fach­leute warnen davor, die Pandemie vorschnell für beendet zu erklären. „Die Welt ist nicht in Ordnung, weil Minister das sagen“, kritisiert Michael Hallek, Leiter der inneren Medizin am Kölner Universitäts­klinikum.

Die Sorgen um einen weiteren Corona-Herbst nehmen zu. In den vergangenen Tagen gab es immer wieder Corona-Ausbrüche und Impf­durch­brüche in Pflege­heimen. Die Pflege­branche hält ein Ende der Corona-Notlage daher „für unverant­wort­lich“ und kann sich sogar eine Impf­pflicht für Bewohne­rinnen und Bewohner vorstellen.

Wenn die Machtverhältnisse sich verschieben

Am späten Montag­abend, kurz bevor der „Spiegel“ die bis dahin zurück­gehaltenen Recherchen zum Fall Julian Reichelt veröffent­lichte, twitterte Juliane Löffler, Autorin der brisanten Story, die zum Sturz des „Bild“-Chefs führte: „Es gibt mehr Me-Too-Geschichten da draußen. Suchen Sie sie und erzählen Sie sie, wenn Sie können.“ Der Tweet klingt wie ein Rat an junge Kolleginnen und Kollegen, hinzusehen und zuzu­hören – und immer wieder die Frage zu stellen, wo Diskriminie­rung anfängt.

Meine Kollegin Kristina Dunz, stell­vertretende Leiterin unseres RND-Haupt­stadt­büros, und unser Chefkorres­pondent Jan Emendörfer sind genau dieser Frage nachgegangen. Sind schon der anzügliche Spruch, das Zwinkern und der zwei­deutige Witz vom Chef ein Fall von Über­griffig­keit? Oder geht es hier nur um Geschmack­losigkeit? Klar ist: „Es gibt kein Liebes­verbot in deut­schen Unternehmen“, schreiben Dunz und Emendörfer. Aber alles hat seine Grenzen. „Problema­tisch wird es immer dann, wenn es Gegen­leis­tungen gibt“, sagt Volker Rieble, Professor für Arbeits­recht an der Univer­sität München, im Gespräch. Wenn also ein beruf­licher Vorteil versprochen werde, „dann werde es rechtlich relevant“.

Die Anti­diskriminie­rungs­stelle des Bundes (ADS) hat Ende 2019 übrigens in einer Studie zum „Umgang mit sexueller Belästi­gung am Arbeits­platz“ beein­druckende Zahlen zutage gefördert. Demnach hatte jede elfte erwerbs­tätige Person in den zurück­liegenden drei Jahren sexuelle Belästi­gung im Job erfahren. Frauen waren mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer.

 

Zitat des Tages

Ich bin zutiefst besorgt.

Ursula von der Leyen,

EU-Kommissions­präsidentin, bei der Debatte mit dem polnischen Minister­präsidenten Mateusz Mora­wiecki über ein Urteil des polnischen Verfassungs­gerichts, nach dem Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar sind

 

Leseempfehlungen

Was geschah im Westin-Hotel? Vor zwei Wochen ging der Musiker Gil Ofarim mit einer Aussage an die Öffent­lich­keit, die für eine Empörungs­welle sorgte: Er sei in der Hotel­lobby anti­semitisch angefeindet worden. Auf Über­wachungs­videos ist dann aber nicht der vermeint­liche Aus­lö­ser für den Vorfall zu sehen: die Kette mit dem Stern­symbol. Eine Über­sicht über das, was wir über den Fall wissen – und was bisher nicht.

Gesundes Klangerlebnis: Kopf­hörer erfreuen sich einer immer größer werdenden Beliebt­heit, vor allem bei jungen Menschen. Schnell in oder auf den Ohren platziert, bieten sie ihren Trägern und Träge­rinnen ein intensives Klang­­erlebnis. Doch werden Kopf­hörer falsch angewendet, können sie schnell zum Problem werden.

 

Aus unserem Netzwerk

Tampons und Monats­binden sollen in Pots­dam künftig kostenlos erhält­­lich sein. Einen entspre­chenden Antrag zu Hygiene­produkten für die Menstrua­tion legten vier Frak­tionen in der Pots­damer Stadt­verordneten­versamm­lung vor. Ähnliche Projekte gibt es bereits in anderen Städten, wie die „Märkische Allgemeine“ (MAZ) berichtet.

 

Termine des Tages

Die zunehmenden Grenzübertritte an der Grenze zwischen Belarus und Polen treiben Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) um. Um 9 Uhr will er bei einer Sitzung des Bundeskabinetts Vorschläge dazu machen, wie man mit der Situation umgehen könne. Anschließend soll es um 11.30 Uhr eine Pressekonferenz geben.

In der Fußball-Champions-League treten am Abend gleich zwei deut­sche Klubs auswärts an. Um 18.45 Uhr ist Anpfiff in Salzburg, wo der VfL Wolfsburg zu Gast ist. Der FC Bayern München spielt ab 21 Uhr bei Benfica Lissabon.

 

Was heute wichtig wird

In Frank­furt am Main beginnt heute die 73. Frank­furter Buch­messe. Gast­land ist in diesem Jahr Kanada. Unter dem Motto „Re:Connect“ findet die Bücher­schau mit gedeckelter Besucher­zahl und weniger Ausstellern statt. Insgesamt 2000 Verlage und Unter­nehmen aus 80 Ländern werden erwartet. Mehr als 300 Auto­rinnen und Autoren stellen ihre Bücher vor.

In Frank­furt am Main beginnt heute die 73. Frank­furter Buch­messe. Gast­land ist in diesem Jahr Kanada. Unter dem Motto „Re:Connect“ findet die Bücher­schau mit gedeckelter Besucher­zahl und weniger Ausstellern statt. Insgesamt 2000 Verlage und Unter­nehmen aus 80 Ländern werden erwartet. Mehr als 300 Auto­rinnen und Autoren stellen ihre Bücher vor.

 

Der Podcast des Tages

Deutsch­lands bekanntester Förster Peter Wohl­leben ist der erste Gast der neuen Staffel von „Klima und wir“. Der Natur­schützer und Sach­buch­autor („Das geheime Leben der Bäume“) spricht darüber, wie er die Hoch­wasser­kata­strophe in der Eifel erlebt hat, über den Zustand des deut­schen Waldes und darüber, warum es seiner Meinung nach keine nach­haltige Forst­wirt­schaft geben kann.

„Der Tag“ als Podcast

Die News zum Hören

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in den Tag,

Nora Lysk und Nils Thorausch

 

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