Gewerkschaftschef: “Bahn-Kollegen kriegen ganzen Frust ab”
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Neuer EVG-Chef Torsten Westphal: "Die Beschäftigten haben die Nase gestrichen voll."
© Quelle: Tobias Golla/EVG/dpa
Berlin. Herr Westphal, nach einem erbitterten Machtkampf verlässt Finanzvorstand Alexander Doll nun zum Jahresende den Bahn-Konzern. Was muss die Lehre aus den Vorgängen sein?
Die Bahn muss raus aus den Schlagzeilen. Wir brauchen eine Versachlichung der Diskussion. Die Sachthemen müssen wieder im Vordergrund stehen und nicht die Personaldebatten. Es tut dem Unternehmen insgesamt nicht gut, so unter Feuer zu stehen.
Wie ist denn die Stimmung in der Belegschaft?
Die Beschäftigten haben die Nase gestrichen voll. Es gibt ohnehin schon viele Unwägbarkeiten: Zu wenig Personal, Zugausfälle, Verspätungen. Das allein ist schon schwierig genug. Und wenn dann noch solche Querelen im Vorstand hinzukommen, sagen die Kolleginnen und Kollegen zu Recht: Wir haben die Faxen dicke, das ist nicht mehr meine Bahn.
Die ganzen Querelen hatten sich entzündet am inzwischen gestoppten Verkauf der Bahn-Auslandstochter Arriva. Wie sollte es bei diesem Thema jetzt weitergehen?
Wir fordern, die gesamte Vorgeschichte des Arriva-Verkaufs gründlich aufzuarbeiten. Wenn ein ganz normaler Eisenbahner auf dem Zug Mist baut, muss er dafür geradestehen. Für den Vorstand darf es da keine anderen Kriterien geben.
Nach diesen Turbulenzen: Wie viel Vertrauen haben Sie noch in Bahnchef Richard Lutz und die anderen Vorstände?
Darüber zu diskutieren, wer jetzt weg muss und wer bleiben soll, bringt überhaupt nichts. Wir brauchen Klarheit und Entscheidungen in Sachfragen.
Das müssen Sie erklären!
Wir müssen erst einmal wissen, welche Rolle die Bahn in der Verkehrspolitik der Zukunft spielen soll. Es sind in den zurückliegenden Monaten in der Politik viele wichtige Entscheidungen zugunsten der Bahn gefallen. Die Bahn kann viel zum Klimaschutz beitragen. Wir brauchen deshalb einen großen visionären Plan für den Schienenverkehr in Deutschland. Wir erwarten, dass sich der Bundesverkehrsminister mit dem Präsidium des Aufsichtsrats zusammensetzt, um klare Erwartungen und Ziele für die nächsten Jahrzehnte zu formulieren.
Die im Sommer vom Bahn-Vorstand vorlegte Strategie reicht Ihnen nicht?
Die Strategie des Bahnvorstandes geht in die richtige Richtung, sie geht mir aber nicht weit genug. Wenn wir heute feststellen, dass wir mittelfristig rund 200 Züge benötigen, dann müssen die Entscheidungen dazu jetzt getroffen werden und nicht irgendwann. Das Gleiche gilt für den Ausbau des Netzes und die Digitalisierung. Erst wenn die Politik ihren großen Plan für den Schienenverkehr der Zukunft fertig und die Erwartungen an die DB AG formuliert hat, muss geklärt werden, mit welchen Menschen an der Spitze er am besten umgesetzt werden kann.
Das Problem der vollen Züge sehe ich auch
Torsten Westphal, Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG
Die Züge im Fernverkehr sind bereits heute oft hoffnungslos überfüllt. Und mit der Mehrwertsteuersenkung wird der Kundenansturm bald noch größer. War das eine kluge Entscheidung?
Es war eine kluge Entscheidung. Wir fordern die Mehrwertsteuersenkung schon seit langem. Das ist eine Maßnahme, die Lenkungswirkung entfalten kann – weg von Auto und Flugzeug.
Die Züge werden dadurch aber noch voller, was auf viele abschreckend wirken dürfte…
Das Problem der vollen Züge sehe ich auch. Die Bahn rechnet damit, dass durch die Absenkung der Mehrwertsteuer bis zu fünf Millionen Fahrgäste pro Jahr hinzukommen werden. Ich hinterfrage, ob die richtigen Vorkehrungen getroffen worden sind, um das zu bewältigen. Noch mehr Leute in den Zügen, noch mehr Stress für unsere Kollegen, die den ganzen Frust abbekommen, wenn die Kapazitäten nicht vorhanden sind – das kann nicht Sinn der Sache sein. Insofern muss jetzt dringend auch die Infrastruktur ertüchtigt werden, damit mehr Züge überhaupt fahren können.
Werden Ihre Kollegen künftig häufiger sagen müssen, Zug X oder Zug Y ist überfüllt und kann nicht losfahren, wenn nicht vorher Reisende aussteigen?
Wenn nicht deutlich mehr ICEs und Intercitys angeschafft werden - die Infrastrukturkapazität nicht erhöht und ausreichend Personal eingestellt wird, werden Züge wegen Überfüllung nicht starten können. Das bereitet mir Sorge. Es besteht die große Gefahr, dass die Stimmung irgendwann umkippt. Die Menschen sind ja bereit, auf die Bahn umzusteigen. Das spüren wir jeden Tag. Um das in den Griff zu bekommen, braucht man eine Langfriststrategie.