Gesundes Spanien, krankes Deutschland
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Madrid, 8. November 2021: Gäste sitzen auf der Terrasse eines Restaurants in der spanischen Hauptstadt - und können sich dort sicherer fühlen als anderswo in der EU.
© Quelle: A. Pérez Meca/EUROPA PRESS/dpa
Es ist nur eine dürre Zahl aus dem Gesundheitsamt – aber nie gab es eine bessere Spanien-Werbung als diese: Die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 43,3.
Spanien ist jetzt das sicherste Land in Europa. Und auch Italien (77,4) und Portugal (82,5) sehen im europaweiten Vergleich relativ gut aus.
Europa erlebt jetzt, nach zwei vor allem für den Süden schlimmen Corona-Wintern, eine historische Umkehrung der Verhältnisse: Plötzlich sitzen die Sorgenkinder im Norden.
Europas neue Sorgenkinder
- In Deutschland kletterte die Inzidenz auf im Bundesdurchschnitt nie dagewesene 263,6. Die Zahl der täglich registrierten Corona-Toten hat sich zwischen dem 23. Oktober und dem 9. November mal eben verzehnfacht, von 23 auf 237. Bayern verkündete, nachdem regionale Inzidenzen hier und da sogar ins Vierstellige schossen, den Katastrophenfall.
- Dänemark rief am 10. September fröhlich den „Freedom Day“ aus – und blickt jetzt auf eine Inzidenz, die noch schlechter ist als die deutsche: 295,9. Eilig korrigierte Premierministerin Mette Frederiksen in den letzten Tagen ihren Kurs.
- Die Niederlande, die gern ihre Liberalität zelebrieren, schafften sogar schon die Maskenpflicht beim Einkaufen ab. Aktuelle Inzidenz: 503,9. Premier Mark Rutte rudert zurück.
- Österreich, von Ex-Kanzler Sebastian Kurz auf internationaler Bühne oft mit augenzwinkernder Überheblichkeit als „smart small country“ vorgestellt, schockt den Rest Europas derzeit mit einer Inzidenz von 742,5. Nicht mal Bulgaren oder Rumänen ringen mit so hohen Zahlen.
Was ist da los? Hat plötzlich der Süden Europas den Bogen raus bei der Virenabwehr? Zumindest sucht man das Vorbild nicht mehr im Norden.
„In Berlin herrscht Alarmstufe Rot“, schreibt die Zeitung „La Repubblica“ in Italien. Deutschland sei heute eines der kränksten Länder der EU.
Jeder im Süden weiß natürlich: Das sah alles schon mal anders aus.
In Spanien sind 80 Prozent geimpft
In Italien ist unvergessen, wie sich Militärlastwagen durch die engen Straßen von Bergamo quälten, um die Toten der ersten Welle abzutransportieren. In Spanien denkt man schaudernd an die dunklen Tage, in denen Madrids Eisstadion „Palacio de Hielo“ zur Leichenhalle umfunktioniert wurde. In Portugal halfen noch im Februar dieses Jahres Bundeswehrsoldaten mit Beatmungsgeräten.
Wie kommt es, dass sich nun plötzlich so viel gedreht hat? Ärzte verweisen auf höhere Impfquoten. In Spanien sind 80 Prozent doppelt geimpft, auch unter Zwölf- bis 19-Jährige. In Portugal ließen sich sogar 87,4 Prozent impfen.
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Ein Bild aus Sevilla: Eine Frau trägt ein Pflaster auf jedem Arm, nachdem sie eine dritte Dosis des Corona-Impfstoffs und eine Dosis des Grippeimpfstoffs erhalten hat. In Andalusien wird die dritte Dosis des Corona-Impfstoffs gleichzeitig mit der Grippeimpfung verabreicht.
© Quelle: Eduardo Briones/EUROPA PRESS/dpa
In Deutschland dagegen ist nicht nur die Impfquote (66,6 Prozent) mau. Land und Leute entdecken gerade generell ihre eigene Mittelmäßigkeit: Entscheidungen, ob in der Politik, in Behörden oder in der Ständigen Impfkommission, fallen zu langsam. Allzu viele Bürgerinnen und Bürger denken nur an sich. Und es fehlt generell an politischer Führung.
Der aktuelle Regierungswechsel macht alles noch komplizierter. Kanzlerin Angela Merkel ist nur noch geschäftsführend im Amt. Ob aber Olaf Scholz sie wie geplant schon am 6. Dezember ablösen kann, ist offen. Jetzt dringt Merkel auf ein baldiges Treffen mit den Bundesländern, um „schnellstmöglich“, wie Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch sagte, über die Corona-Lage zu beraten.
Deutschland ist zu langsam
Schnellstmöglich? Da entfernt sich die Regierungsrhetorik vom Faktischen. Schnellstmöglich geschah, in letzter Zeit jedenfalls, in Berlin so gut wie gar nichts. Drei Beispiele markieren die klägliche deutsche Langsamkeit in der Pandemie.
1. SPD, Grüne und FDP wollen künftig bundesweit die 3-G-Regel am Arbeitsplatz einführen. Beschäftigte, die weder Impfung noch Genesung nachweisen können, sollen sich täglich auf Corona testen lassen. Dieser politische Beschluss wurde am 10. November gefasst. Wann er Gesetz wird, ist aber schleierhaft. Zum Vergleich: In Italien trat die 3-G-Regel am Arbeitsplatz schon am 15. Oktober in Kraft. Der ebenso rührige wie zielstrebige Premier Mario Draghi drückte die Verschärfung im Herbst im Parlament durch, landesweiten Protesten auf den Straßen zum Trotz.
2. Deutsche Talkshows debattieren seit Monaten in einer Endlosschleife über eine Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Die Lage sei „so ernst, dass wir tatsächlich Themen wie Impfpflicht diskutieren müssen“, sagte zuletzt etwa die Ärztin Carola Holzner am Dienstagabend bei „Markus Lanz“. Während die Deutschen weiter diskutieren, worüber man alles diskutieren müsse, schaffen andere EU-Staaten Fakten. Schon seit Mai droht Italien Impfverweigerern im Gesundheitswesen mit Suspendierung. Hunderte verloren deshalb ihr Gehalt, konnten aber inzwischen in den Job zurückkehren – nach der Impfung. Ähnliche Regeln gelten seit September in Frankreich und Griechenland. In Spanien, wo das Gesundheitswesen durchgeimpft ist, fordern die Arbeitgeber bereits eine Impfpflicht für die Beschäftigten aller Branchen.
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9. November, in einer Bar in Lille, Frankreich: In einer Fernsehansprache stellt Präsident Emmanuel Macron ein klares Konzept für die Booster-Impfungen vor. Wer 65 ist oder älter, muss sich bis zum 15. Dezember eine dritte Impfung geben lassen – anderenfalls erlischt seine Anerkennung als Geimpfter.
© Quelle: Michel Spingler/AP/dpa
3. Die Debatte um Booster-Impfungen wurde von Deutschlands Ständiger Impfkommission gebremst und verkompliziert. Anfangs hieß es, zu empfehlen sei das Boostern erst ab einem Alter von 70, neuerdings heißt es, „mittelfristig“ könne man es auch ausweiten. Eine klare Regelung aber fehlt in Deutschland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron indessen erklärte die Auffrischung kurzerhand zur Pflicht. In einer Fernsehansprache am Dienstagabend sagte Macron, bereits ab dem 15. Dezember müsse jeder Franzose ab 65 Jahren eine Auffrischungsimpfung nachweisen – anderenfalls gilt er nicht mehr als geimpft im Sinne der französischen Corona-Vorschriften. Viele staunen jetzt über so viel Rigorosität. Eins aber steht fest: Nie bekam das Boostern einen solchen Boost.
Verneigung vor den Impfgegnern
In Südeuropa sehen vier Fünftel der Bevölkerung das Impfen als selbstverständlichen Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Solidarität. Wie sehr etwa in Spanien der Gedanke des Füreinandereinstehens dominiert, zeigte sich übrigens schon bei der dortigen Regelung von Organspenden. Jedem Verstorbenen, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat, können Organe entnommen werden. Dies führt in der medizinischen Praxis zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen: In Spanien, wo im Zweifel transplantiert werden darf, werden pro Jahr 46,9 Organspenden pro eine Million Einwohner registriert. In Deutschland, wo im Zweifel die Transplantation verboten bleibt, sind es nur 9,7.
In der Impfdebatte gibt es in Deutschland ebenfalls eine allzu tiefe Verneigung vor einer wie auch immer motivierten, ethisch jedenfalls fragwürdigen Abkehr Einzelner von sozialen Überlegungen.
Man müsse Respekt haben vor jedem, der sich nicht impfen lasse: Formeln wie diese sind in fast jeder Talkshow zu hören, von Politikern aller Parteien.
Dummerweise wurde die Liste der Verweigerer immer prominenter und immer länger, von Joshua Kimmich und Sahra Wagenknecht bis zur – inzwischen infizierten – Alice Weidel. Längst dienen diese Promis als Role-Models auch für jene, deren Impfverweigerung lediglich auf einer Mischung aus Desinformation und übertriebener Egozentrik beruht.
Tödliche Dummheit in Bulgarien und Rumänien
Wie verhängnisvoll ein Verweigerungskult am Ende sein kann, lässt sich derzeit in Bulgarien und Rumänien studieren. Nirgendwo in Europa gibt es so viel Desinformation zum Thema Impfen. Nirgendwo ist auch die Impfquote so niedrig – und die Todesrate so hoch.
In Rumänien erreicht die rechte Parlamentsabgeordnete Diana Sosoaca inzwischen traurige weltweite Berühmtheit. Mal wischte sie die Pandemie als „größte Lüge des Jahrhunderts“ vom Tisch, mal rief sie auf zu Antimaskendemos, mal gar zu Blockaden vor Impfzentren. In einem Facebook-Video verhöhnte sie ihre Landsleute, die zum Impfen gegangen seien „wie Lämmer zur Schlachtbank“.
Nur jeder dritte Rumäne hat bislang eine erste Impfung. In der letzten Woche starben in dem Land bis zu 600 Menschen pro Tag. Hochgerechnet auf das bevölkerungsreichere Deutschland entspräche die rumänische Todesquote hierzulande 2400 Toten täglich.
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„Die Pandemie ist die größte Lüge des Jahrhunderts“: Mit Kampagnen gegen das Impfen trug die rechte rumänische Parlamentsabgeordnete Diana Sosoaca dazu bei, dass derzeit bis zu 600 Menschen pro Tag in ihrem Land sterben.
© Quelle: dpa
Führt dieses Desaster endlich zu einem Umdenken in den düstersten Ecken der EU? In Rumänien haben neben rechten Politikern auch religiöse Führer der orthodoxen Kirche vom Impfen abgeraten. Es ist deprimierend, aber wahr: Auch im Übergang zum dritten Pandemiewinter gilt ein Satz aus dem Roman „Die Pest“ von Albert Camus: „Dummheit ist immer beharrlich.“