Die neue Schweigsamkeit
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Olaf Scholz (SPD, M.), Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat, kommt zu einer Pressekonferenz vor dem G20-Gipfel.
© Quelle: Oliver Weiken/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
aus den Koalitionsverhandlungen ist bisher ja wenig zu hören und zu lesen. Um es gleich vorwegzunehmen: Es liegt nicht daran, dass wir Journalistinnen und Journalisten nicht unserem Job nachgingen. Ursache ist vielmehr die neue Schweigsamkeit der Koalitionäre in spe. Meine Haltung dazu ist zugegebenermaßen gespalten: Als Nachrichtenjägerin bin ich natürlich betrübt, wenn ich keine fette Beute machen kann. Als Staatsbürgerin beruhigt es mich, dass wir auf eine Regierung zusteuern, deren Akteurinnen und Akteure planvoll vorgehen und einander vertrauen.
Auch wenn ich an dieser Stelle noch nicht damit aufwarten kann, mit welchem Trick die Schuldenbremse eingehalten und die notwendigen Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung, Verkehrswende und Bildung dennoch getätigt werden können, tut sich doch einiges hinter den Kulissen.
Die Verhandlerinnen und Verhandler der 22 Arbeitsgruppen tagen täglich von 9 bis 19 Uhr. Am gestrigen Mittwoch kam erstmals die sogenannte Steuerungsgruppe der führenden Parteimitglieder zusammen. Sie haben den schwierigen Job, strittige Punkte zu einen. Die Arbeitsgruppen dürfen in den Farben Rot, Gelb und Grün kenntlich machen, welche Parteien bei welchen Punkten jeweils miteinander im Clinch liegen.
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© Quelle: RND
Eine wichtige Quelle für Informationen sind in der Hauptstadt traditionell die Hintergrundgespräche. Sie finden üblicherweise „unter drei“ statt. Man darf also nichts aus diesen Gesprächen veröffentlichen. Nützlich sind sie dennoch. Sie helfen, an anderer Stelle präzise zu fragen und den eigenen Horizont zu erweitern. Nun muss man einräumen, dass die Sitten im Regierungsviertel teilweise verfallen sind. Immer wieder wird „unter drei“ von einigen Medien gebrochen. Es gibt aber auch Politikerinnen und Politiker, die „unter drei“ sprechen und dennoch den Wunsch haben, dass das Gesagte Füße bekommt – nur bitte soll die Quelle geheim bleiben.
Die Spielregeln lassen also Interpretationsraum. Aktuell führt das dazu, dass eine Reihe von Ampelkoalitionären keine Hintergrundgespräche mehr führt oder sie nur noch in sehr kleinem Kreis zulässt. Vor dem Hintergrund, dass 2017 das schlechte Gerede übereinander in Hintergrundkreisen der Anfang vom Ende der Jamaika-Sondierungen war, kann man die neue Schweigsamkeit nachvollziehen.
Wobei das allgemeine Geschweige auch nicht bedeutet, dass es still ist. Im Gegenteil, das Zurückhalten von Informationen muss man sich wie ein Mikadospiel vorstellen: Wer zuerst zuckt und etwas preisgibt, hat verloren. Derjenige oder diejenige oder seine oder ihre Partei wird die Schuld bekommen, wenn die Koalitionsverhandlungen ins Stocken geraten oder gar scheitern.
Das wiederum führt zu der lustigen Situation, dass sich manch ein Unterhändler diskret bei den Journalistinnen und Journalisten erkundigt, ob und in welcher Besetzung denn „die anderen“ Hintergründe machen. Dazu allerdings müssen wir dann schweigen. Denn zum journalistischen Quellenschutz gehört auch, dass man nicht darüber spricht, mit wem man geredet hat.
Auf diese Art und Weise halten die Dämme derzeit. Je länger die Koalitionsverhandlungen dauern, desto mehr drückt allerdings die Flut an Informationen über geeinte Punkte und strittige Fragen sowie an aufgestautem Ärger. Eine durchgestochene Information, eine unvorsichtige Interviewäußerung oder einfach Missverständnisse können zum Dammbruch führen. Dementsprechend groß ist derzeit die Vorsicht, denn alle Seiten wollen ernsthaft das Ampelbündnis eingehen.
Auch im Umgang miteinander sind die gescheiterten Jamaika-Sondierungen das schlechte Beispiel: Die Gespräche platzten in der Nacht von Sonntag, 19. November, zu Montag, 20. November 2017. Grünen-Chefunterhändler Jürgen Trittin hatte zuvor der „Bild am Sonntag“ ein Interview gegeben, das FDP und CSU als Affront sehen mussten. Es war das Ende einer langen Kette öffentlicher und verdeckter gegenseitiger Anfeindungen der Parteien, die eigentlich miteinander regieren sollten. Solange die Ampelverhandler es ernst meinen, gilt also: Schweigen ist sicher, reden ist riskant.
Machtpoker
„Es ehrt mich sehr, dass mein Name für die Aufgabe des SPD-Vorsitzenden genannt wird.“
Lars Klingbeil,
SPD-Generalsekretär, im Interview mit dem RND
Wenn es um die Verteilung großer Ämter geht, kommt es für die möglichen Kandidatinnen und Kandidaten vor allem auf das richtige Timing an. Man darf Interesse nicht zu früh und nicht zu offensiv anmelden. Man kann aber auch nicht schweigen in der Hoffnung, dass das Amt zu einem komme. So gesehen hat sich Klingbeil sehr geschickt verhalten.
Er öffnet die Tür weit für seine Genossinnen und Genossen, ihn zum favorisierten Kandidaten zu machen. Seine Worte sind zugleich so gesetzt, dass er das Amt vor die Person stellt. Der neue SPD-Style: weniger ich, mehr wir. Die Chancen, dass Klingbeil in einer Doppelspitze mit der amtierenden Parteichefin Saskia Esken oder einer anderen Genossin neuer Parteivorsitzender wird, stehen also gut.
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SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.
© Quelle: imago images/Fotostand
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
Deutschland einig Ampelland: Die Mehrheit für eine rot-gelb-grüne Regierung ist seit der Bundestagswahl stabil. Aktuell misst das Umfrageinstitut Forsa im Auftrag von RTL/N‑TV in der Sonntagsfrage Werte, die sehr nah am Ergebnis der Bundestagswahl liegen.
Spannend wird in den nächsten Wochen, welchen neuen Parteichef die CDU-Mitglieder wählen. Dem Forsa-Institut zufolge wünschen sich 29 Prozent der CDU-Anhängerinnen und CDU-Anhänger Friedrich Merz in dieser Funktion. Bei den AfD-Anhängerinnen und AfD-Anhängern sind es demnach 41 Prozent, die Merz als neuen CDU-Vorsitzenden favorisieren.
Das Urteil von Forsa-Chef Manfred Güllner: „Mit einem Vorsitzenden Merz wird das Bild der CDU nicht – wie von manchen gewünscht – jünger und weiblicher, sondern älter und männlicher; denn bei Frauen und den 18- bis 29-Jährigen verfügt er über einen ausgeprägten Vertrauensmalus.“ Da die Mitglieder einer Partei noch einmal ganz anders ticken als die Anhängerinnen und Anhänger, sagt diese Umfrage noch nichts über die geplante Mitgliederbefragung aus.
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