Die wichtigsten Fragen und Antworten

Zwischen Russland und der EU: Welchen Kurs schlägt Georgien ein?

In der georgischen Hauptstadt Tiflis sind am Mittwoch Tausende Menschen gegen ein geplantes Gesetz für aus dem Ausland finanzierte Medien auf die Straßen gegangen.

In der georgischen Hauptstadt Tiflis sind am Mittwoch Tausende Menschen gegen ein geplantes Gesetz für aus dem Ausland finanzierte Medien auf die Straßen gegangen.

Berlin. Nach mehrtägigen Protesten gegen ein geplantes Gesetz, wonach sich Nicht­regierungs­organisationen (NGO) und Medien, die Geld aus dem Ausland erhalten, als „Agenten“ registrieren lassen müssen, hat die georgische Regierungs­partei den Verzicht auf den Entwurf angekündigt. Die Partei Georgischer Traum und ihre Verbündeten teilten am Donnerstag mit, wegen der „Kontroverse in der Gesellschaft“ werde der Gesetz­entwurf im Parlament zurückgezogen.

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Zuvor hatten seit Wochenbeginn jeden Abend mehrere Tausend Menschen protestiert. Die Polizei setze Tränengas und Waffenwerfer ein. 66 Menschen wurden nach offiziellen Angaben festgenommen. Die Behörden warfen den Demonstranten und Demonstrantinnen vor, Polizisten mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen und später das Parlament mit Molotow­cocktails und Feuerwerks­körpern angegriffen zu haben.

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Warum hat dieser Gesetzentwurf Massen auf die Straße gebracht?

Das Gesetz hat große Ähnlichkeit mit dem 2012 in Russland erlassenen Gesetz gegen „ausländische Agenten“, das am Ende zum Verbot aller oppositionellen NGOs führte. Zuletzt musste Ende 2021 in Moskau die einst von Friedens­nobelpreis­träger Andrej Sacharow (1921–1989) mitgegründete Menschen­rechts­organisation Memorial ihre Arbeit einstellen. Den Georgierinnen und Georgiern ist offenbar bewusst, dass die Regierung mit diesem Gesetz einen wichtigen Schritt in Richtung Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit gehen will.

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Der Gesetzentwurf war bereits am Dienstag in erster Lesung mit 76 von 150 Stimmen durch das Parlament gegangen, obwohl er eigentlich erst am Donnerstag behandelt werden sollte. Die Regierungspartei drückte aufs Tempo, um Nägel mit Köpfen zu machen. Allerdings wären noch eine zweite und dritte Lesung nötig gewesen. Neben den Protestierenden hatte auch Präsidentin Salome Surabischwili ihr Veto gegen das Gesetz angekündigt. Sie wurde zwar 2018 von der Regierungs­partei bei der Wahl zum Staatsoberhaupt unterstützt, ist aber unabhängig.

Waren zunächst vor allem politische Aktivsten und Vertreter der Zivil­gesellschaft gegen den Gesetzentwurf auf die Straße gegangen, gab es bald danach eine große Solidarisierungs­welle, die auch von Künstlern, Sportlern und Wissenschaftlern getragen wurde, wie Beobachter in Tiflis berichteten.

Wie entwickelte sich Georgien nach dem Zusammenbruch der UdSSR?

Im Zuge des schleichenden Zerfalls der Sowjetunion sagte sich Georgien als eine der ersten von ehemals 15 Sowjet­republiken von der UdSSR los. In einem Referendum am 31. März 1991 stimmten die Georgierinnen und Georgier über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit ihres Landes ab. Etwa 90 Prozent der rund 3,5 Millionen Stimmberechtigten beteiligten sich an der Volks­abstimmung. Je nach Quelle stimmten zwischen 95 und 99 Prozent für die Unabhängigkeit Georgiens, am 9. April 1991 folgte die Unabhängigkeits­erklärung.

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Die frühen 1990er-Jahre, in denen der ehemalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse nunmehr als Georgiens Präsident das Ruder in der Hand hielt, waren von bürgerkriegs­ähnlichen Zuständen gekennzeichnet. Neben den üblichen Umbrüchen beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft mit Inflation, Arbeitslosigkeit und Oligarchentum strebten die georgischen Regionen Abchasien und Südossetien nach Eigenstaatlichkeit.

Diese Sezessions­­bestrebungen führten zuerst in Südossetien und später auch in Abchasien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen georgischen Truppen und separatistischen Kräften. In Südossetien wurden die Kämpfe 1992 mit einem Waffenstillstand eingestellt, in Abchasien dauerten die Kämpfe bis 1994 an. Beide Regionen erklärten sich zu selbstständigen Staaten, die zwar international nicht anerkannt sind, aber von Russland gestützt werden. In beiden „Republiken“ sind russische Truppen stationiert.

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Seit wann ist Georgien auf prowestlichem Kurs?

Im Jahr 2003 stürzten Reformkräfte in der sogenannten Rosenrevolution Präsident Eduard Schewardnadse (1928–2014). Anlass war die Parlamentswahl im November, die unter dem Verdacht der Wahlfälschung stand. In der Folge wurde der damals gerade 37 Jahre alte Ex-Justizminister Michail Saakaschwili 2004 mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Er drang auf Reformen in allen Bereichen, öffnete das Land in Richtung Westen und nahm Kurs auf EU- und Nato-Beitritt.

Unter Saakaschwili starteten georgische Truppen in der Nacht zum 8. August 2008 eine Offensive zur Rückgewinnung der Kontrolle über Südossetien. Russland kündigte „Gegenmaßnahmen“ an und griff daraufhin Georgien sowohl aus der Luft als auch über Land und See an. Der Krieg dauerte fünf Tage, in denen russische Truppen die georgische Armee zurückdrängten und bis in georgisches Kernland vorrückten. Bis zum Waffenstillstand am 12. August wurden etwa 850 Menschen getötet sowie zwischen 2500 und 3000 verwundet.

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Michail Saakaschwili, ehemaliger Präsident von Georgien, im Jahr 2019.

Michail Saakaschwili, ehemaliger Präsident von Georgien, im Jahr 2019.

In der zweiten Hälfte seiner Amtszeit regierte Saakaschwili mit autokratischen Tendenzen und ließ Proteste der Opposition gewaltsam auflösen. Nach seiner Abwahl 2012 ging er ins Exil, zunächst in die USA, dann 2015 in die Ukraine. In Georgien wurde er in Abwesenheit wegen Macht­missbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als er im September 2021 kurz vor den Kommunalwahlen nach Tiflis zurückkehrte, wurde er verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis. Sein Gesundheits­zustand ist sehr schlecht, er hat stark abgenommen.

Wie steht das Land im Verhältnis zu Kiew und Moskau?

Im Jahr 2011 gründete der Oligarch Bidzina Iwanischwili (67), der einstmals ein Weggefährte Saakaschwillis gewesen war, eine Bürgerbewegung, aus der im April 2012 die Oppositions­partei Georgischer Traum hervorging. Sie gewann schließlich die Wahlen und ist noch heute Regierungspartei. Der Milliardär, der seit Vermögen einst in Russland gemacht hat, war kurzzeitig auch Premierminister, hat aber momentan kein politisches Amt inne. Dennoch zieht er im Hintergrund alle Fäden.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 versucht die georgische Regierung zwischen Kiew und Moskau zu lavieren. Georgien hat sich nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen und gleichzeitig nach der russischen Teil­mobilmachung im September 2022 über 100.000 geflohene Russen aufgenommen, unter ihnen viele Fachkräfte etwa aus dem IT-Bereich.

Das befeuert zwar die georgische Wirtschaft und lässt auch den Tourismus mit russischen Gästen weiter blühen, führt aber gleichzeitig auch zu Spannungen, weil durch die mit den Einwanderern zunehmende Kaufkraft die Inflation steigt und durch die erhöhte Nachfrage auch die Immobilien­preise explodieren.

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Welche Konfliktpunkte gibt es im Inneren des Landes?

Im politischen Raum stehen sich die Regierungs­partei Georgischer Traum und die oppositionelle Vereinigte Nationale Bewegung als die beiden stärksten Kräfte gegenüber. Im politischen Alltagskampf kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, die – wie zuletzt in dieser Woche – auch eskalieren können. „Diese Polarisierung ist etwas, was die Gesellschaft nicht mehr will“, sagte Stephan Malerius, Leiter des Südkaukasus-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis, im Gespräch mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND).

Laut Umfragen sprechen sich große Mehrheiten der Bevölkerung immer wieder für die EU (80 Prozent) und für die Nato (70 Prozent) aus. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg beantragte Georgien im März 2022 den EU-Kandidaten­status, fiel dann aber im Juni bei der Auswahl durch, als in Brüssel lediglich die Ukraine und Moldau den Zuschlag erhielten. Brüssel gab Georgien zwar eine Perspektive, knüpfte diese aber an die Berücksichtigung von zwölf Empfehlungen, darunter Rechts­staatlichkeit, Medien­freiheit und auch „Deoligarchisierung“.

Obwohl die Regierungspartei offiziell weiter in Richtung Westanbindung arbeitet, sprechen politische Beobachter von einer schleichenden Abwendung: Der Oligarch Iwanischwili habe gute Verbindungen nach Moskau und versuche offenbar, das Land peu à peu vom prowestlichen Kurs abzubringen, was sowohl die EU- als auch die Nato-Mitgliedschaft betrifft, sagte Osteuropa­experte Andreas Umland, Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies, gegenüber dem RND.

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Welche Auswirkungen hätte das „Agentengesetz“ gehabt?

Während die Befürworter des Gesetzes erklärt hatten, er sei nötig, um transparent zu machen, welche Organisationen und Medien aus dem Ausland finanziert werden, sah die Opposition darin klar ein Instrument, um die Pressefreiheit und die Zivilgesellschaft zu unterdrücken. Entsprechend eindeutig waren die Reaktionen im Westen. Sowohl die UN als auch die USA und die EU kritisierten den Entwurf. Georgische Aktivisten kündigten an, trotz der Rücknahme des Entwurfs am Donnerstagabend erneut zu protestieren und die Freilassung Festgenommener zu fordern.

„Das Gesetz über ausländische Agenten wäre nicht mit dem EU-Recht und den Werten vereinbar und würde den weiteren Weg in die EU versperren“, sagte Robin Wagener, Südkaukasus-Koordinator im Auswärtigen Amt, dem RND. Es wäre eine vertane Chance, wenn Georgien die Türen Richtung EU selbst schließt. „Für den weiteren Fortschritt muss die georgische Regierung deutlich machen, dass sie nachhaltig die gemeinsamen Werte der EU teilt und, wie in der georgischen Verfassung selbst vorgesehen, die notwendigen Schritte dafür geht“, so der Grünen-Politiker.


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