RND-Interview zur Hilfe für geflüchtete Kinder

Lehrerpräsident Meidinger: „Die Kultusminister müssen schnell handeln – sonst droht großes Chaos“

Heinz-Peter Meidinger spricht im Interview über die Todsünden der Bildungspolitik.

Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger sieht die Schulen vor großen Aufgaben – und fordert mehr Hilfe der Politik.

Berlin. Herr Meidinger, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, geht davon aus, dass Hundertausende Kinder aus der Ukraine zu uns kommen. Kann das deutsche Schulsystem diese Aufgabe gut bewältigen?

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Auf solche Ausnahmesituationen kann man nie richtig vorbereitet sein. Lehrerinnen und Lehrer sehen das Leid der Menschen aus der Ukraine und wollen neu ankommenden Schülern so viel wie möglich helfen. Gleichzeitig haben wir es in Deutschland mit einem Schulsystem zu tun, das schon für seine ganz normalen Aufgaben stark unterfinanziert sowie personell massiv unterversorgt ist. Und das von der Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren ohnehin schon kräftig durchgeschüttelt wurde. Die Kultusminister müssen schnell handeln – sonst droht großes Chaos.

Woran fehlt es in den Schulen, um die Hilfe und den Unterricht für die geflüchteten Kinder wirklich stemmen zu können?

Es ist eine einfache Rechnung: Wenn wir einmal von 250.000 geflüchteten Kindern, die nach Deutschland kommen könnten, ausgehen, brauchen wir dafür 10.000 bis 15.000 Lehrer mehr. Mal abgesehen davon, dass wir für die Schulen in schnellster Zeit zusätzliche Räume beschaffen müssen – im Zweifel auch durch Lösungen mit modern ausgestatteten Containern.

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Woher sollen die zusätzlichen Lehrkräfte kommen? In Deutschland herrscht doch ohnehin an vielen Schulformen Lehrermangel.

Es ist eine richtige Idee, ukrainische Lehrkräfte einzubinden, die geflüchtet sind. Sie können sich wie niemand sonst in Deutschland in die Nöte und Bedürfnisse der Kinder eindenken. Klar ist aber auch: Das wird kurzfristig schwierig werden und nicht ansatzweise ausreichen. Die Kultusminister müssen jetzt alles tun, um pensionierte Lehrerinnen und Lehrer zu aktivieren.

Gute Idee. Nur hat sie schon bei Engpässen in der Vergangenheit nicht wirklich funktioniert.

Es gibt die Chance, dass das diesmal anders ist. Das Entsetzen über das, was in der Ukraine geschieht, weckt bei vielen pensionierten Lehrern die Bereitschaft, die eigenen Pläne im Ruhestand noch mal beiseitezulegen und in den Klassenraum zurückzukehren. Das zeigen erste Rückmeldungen. Darüber hinaus gilt: Die Kultusminister müssen darum werben, dass Lehramtsstudenten jetzt in den Schulen bei der Arbeit mit geflüchteten Kindern Praxiserfahrungen sammeln können. Das alles sind Ansätze, die nicht – wie oft in der Vergangenheit – nur halbherzig verfolgt werden dürfen. Da müssen die Ministerinnen und Minister jetzt ihre ganze Energie reinlegen. Und es braucht viel zusätzliches Geld.

Über welche Summen reden wir?

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Wenn die geflüchteten Kinder länger oder dauerhaft bleiben, dann geht es um Milliarden, die wir zusätzlich für das Schulsystem brauchen. Die Bundesregierung hat auf den Ukraine-Krieg reagiert, indem sie ein Sondervermögen von 100 Milliarden für die Bundeswehr schaffen will. Der Vorteil für die Bundeswehr ist: Damit ist dann auch klar, dass das Geld nicht für andere Zwecke verwendet werden kann. Auch für eine bessere Bildung, Digitalisierung und schulische Integration brauchen wir gigantische Summen, die dann auch wirklich auf viele Jahre sicher vorhanden sein müssen. Nur legt der Staat leider kein Geld für die Bildung zurück. Eigentlich brauchen wir auch ein Sondervermögen Bildung.

Aus welchen Fehlern, die wir bei der Zuwanderung von Geflüchteten im Jahr 2015 im Bildungsbereich gemacht haben, können wir lernen?

Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil vieles nicht unbedingt vergleichbar ist. Die gute Nachricht ist: Die Kinder aus der Ukraine kommen aus einem recht gut geordneten Schulsystem, übrigens auch mit einer beträchtlichen Abiturientenquote. Das bedeutet: Während beim letzten Mal vor allem Grundschulen und dann die Schulen bis zur 10. Klasse die Integration zu bewältigen hatten, könnten diesmal auch die Gymnasien und Schulen, die zum Abitur führen, stärker gefordert sein. Das alles wird relevant, wenn klar ist, dass die Kinder länger hier bleiben.

Was sind die wichtigsten Schritte, die wir an den Schulen in den ersten Monaten beachten müssen?

Neben den großen organisatorischen und personellen Herausforderungen geht es vor allem um zwei Dinge. Erstens: Die Traumabewältigung muss im Mittelpunkt stehen. Als Erwachsener mag man sich kaum vorstellen, was diese Jungen und Mädchen durchgemacht haben und wie sie leiden. Die Psyche dieser Kinder zu stärken ist jetzt das Wichtigste. Das hat aktuell Vorrang vor jeder Form von Lernen.

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Und zweitens?

Wir sollten die Wünsche der ukrainischen Regierung und der Geflüchteten selbst einbeziehen. Die ukrainische Generalkonsulin hat gegenüber der Kultusministerkonferenz deutlich gemacht, dass ihr Land sich wünscht, dass die Kinder mit Hilfe geflüchteter ukrainischer Lehrkräfte und digital verfügbaren ukrainischen Lehrbüchern unterrichtet werden. Das ist durchgängig so sicher nur begrenzt machbar. Aber wichtig ist zum Beispiel schon, dass wir alles tun, dass diejenigen, die nah vor ihrem ukrainischen Abschluss stehen, ihn auch machen können. Es geht also auch darum, dass die Kinder den Anschluss an das ukrainische Bildungssystem nicht verlieren.

Es hat sich in der Vergangenheit immer als Fehler herausgestellt, zu lange an der Annahme festzuhalten, Geflüchtete oder andere Migranten würden schnell in ihre Heimat zurückkehren.

Ich denke, wir sollten zumindest sehen und auch ehrlich respektieren, dass die Menschen tatsächlich zurück in ihr Land wollen. Bis zum Beginn des nächsten Schuljahres nach den Sommerferien kann man vermutlich auch viel besser absehen, ob die Hoffnung der Geflüchteten auf Rückkehr in absehbarer Zeit in irgendeiner Form realistisch ist.

Ohne das schnelle Erlernen der Sprache scheitert jede Integration.

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Ich sage auch nicht, dass die Kinder kein Deutsch lernen sollen. Das ist wichtig und sollte auch ein Teil unseres Beschulungsangebots sein. Ich hielte es aber für einen Fehler, von Anfang an alles zu kopieren, was wir 2015 gemacht haben – ohne zu beachten, dass es sich hier um ganz andere Menschen und auch um eine grundsätzlich andere Ausgangslage handelt als damals.

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