Viele Ukrainer sind hochqualifiziert

Geflüchtete aus der Ukraine: Mehr als ein Drittel will „für immer“ in Deutschland bleiben

Neues Leben in Berlin: Julia (r.) aus Odessa mit ihrem neuen Partner Chris und ihren Kindern.

Neues Leben in Berlin: Julia (r.) aus Odessa mit ihrem neuen Partner Chris und ihren Kindern.

Berlin. Am dritten Tag des russischen Überfalls packt die 37-jährige Julia in der südukrainischen Hafenstadt Odessa ihren Sohn, ihre Tochter, den Hund und das Meerschweinchen in das Auto eines Freundes. Er bringt sie zur Grenze nach Moldau. „Geh nach Deutschland“ hat ihr eine Freundin geraten. „Warum nach Deutschland?“, fragte Julia zurück. „Ich kenne dort niemanden.“ „Aber ich“, antwortete die Freundin und schickte ihr die Kontaktdaten des Vereins Inwole in Potsdam, der seit Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen in der Ukraine unterstützt.

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In einem überfüllten Reisebus fuhren Julia und ihre Kinder von der moldauischen Hauptstadt Chisinau in polnische Warschau, von dort mit einem anderen Bus deutscher Aktivistinnen und Aktivisten nach Berlin.

Strapazen der Flucht: Julias kleine Tochter im Bus nach Warschau.

Strapazen der Flucht: Julias kleine Tochter im Bus nach Warschau.

Die Fotografin und ihre Kinder gehörten vor knapp einem Jahr zu den ersten Geflüchteten aus der Ukraine. Ein Jahr nach dem russischen Überfall sind mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland registriert. Nur Polen hat in Europa mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Bei einer repräsentativen Umfrage, deren Ergebnisse am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurden, gaben 60 Prozent an, dass sie wegen privater Kontakte – Familienangehörige, Freunde oder Bekannte – nach Deutschland kamen.

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Am meisten Ukraine-Geflüchtete sind in Polen

Julia hatte immerhin den Kontakt zum Potsdamer Verein, in dessen Büro sie heute arbeitet, als Koordinatorin für ukrainische Integrationsprojekte. Nebenbei besucht sie selber einen Integrationskurs. Im Studium hatte sie bereits Deutschkurse, vieles davon war verschüttet. Sie hofft, jetzt schnell auf ein gutes Niveau in Deutsch zu kommen.

Denn sie will bleiben. „Für mich war es vom ersten Tag klar: Ich will hier ein neues Leben aufbauen“, sagt die alleinerziehende Mutter. „Ich habe das Glück gehabt, auf der Reise und in Deutschland wirklich gute, freundliche Menschen gefunden zu haben.“ Noch ein Jahr später ist sie beeindruckt von den warmherzigen Freiwilligen, sei es in Chisinau, an den Grenzen in Rumänien und Ungarn, in Warschau und nicht zuletzt in Berlin. Im Bus von Warschau nach Berlin traf sie Chris, Fotograf und Aktivist bei der Organisation „Berlin to Borders“, die HiIfsgüter sammelt und in die Ukraine bringt.

Sie wurden Freunde, und irgendwann merkten sie, dass da mehr ist zwischen ihnen. Julia hat in Berlin nicht nur eine neue Heimat, sondern auch ein neues Glück gefunden.

Mehr als ein Drittel will „für immer“ bleiben

Mehr als 10.000 Geflüchtete aus der Ukraine haben die Interviewerinnen und Interviewer des Forschungsprojekts „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ im Frühjahr und Sommer befragt, auch nach ihren Bleibeabsichten. Mehr als ein Drittel der Geflüchteten will „für immer“ (26 Prozent) oder „einige Jahre“ (11 Prozent) in Deutschland bleiben. Ein weiteres Drittel gibt an, „bis Kriegsende“ in Deutschland bleiben zu wollen, wobei eine Mehrheit von einer längeren Dauer des Krieges ausgeht. Ein gutes Viertel (27 Prozent) der Befragten war unsicher, wie lange sie bleiben wollen.

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Laut Studie bringen die geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer gute Voraussetzungen mit, um in Deutschland Fuß zu fassen. Die Hälfte der Erwachsenen ist jünger als 40 Jahre. 72 Prozent haben einen hohen, meist akademischen Bildungs- oder Ausbildungsabschluss. 80 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer gaben bei der Befragung an, dass sie nur wenig oder kein Deutsch sprechen. 50 Prozent besuchen einen Sprachkurs.

Julias großer Sohn ist mit 15 Jahren jetzt in einer regulären deutschen Schulklasse. „Er versteht vieles, wenn auch noch nicht alles“, sagt sie. Ihre kleine Tochter, die im Herbst fünf Jahre alt geworden ist, fremdelte mit dem neuen Land und der neuen Sprache. Auch im Kindergarten wollte sie sich einen ganzen Monat lang nicht von ihrer Mutter trennen. Langsam wurde es besser.

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In der Studie wird das, was Julia und viele ukrainische Mütter in den vergangenen Monaten mit ihren Kindern erlebt haben, in nüchternem Sozialwissenschaftler-Deutsch so formuliert: „Kinder wirken sich, insbesondere wenn sie keine Betreuungseinrichtungen besuchen, negativ auf die Erwerbstätigkeitswahrscheinlichkeit von Frauen aus, während Kinder bei Männern hier keinen signifikanten Effekt haben“, bilanzieren die Studienautoren und raten dringend zu ausreichenden Betreuungsangeboten: 79 Prozent der Ukrainerinnen in Deutschland wollen arbeiten.

Welche Integrationsmaßnahmen fehlen?

„Die Bedingungen für eine erfolgreiche Teilhabe in Deutschland sind gut“, sagt Yuliya Kosyakova vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit. Dennoch seien Integrationsmaßnahmen notwendig, die auf langfristigen Aufenthalt zielen. Insbesondere die Schaffung von geeigneten Kinderbetreuungsmöglichkeiten sollte hohe Priorität haben.

Nicht viele kommen so schnell in Deutschland an wie Julia. Und auch ihr ist die neue Heimat noch jeden Tag fremd. Die Bürokratie vor allem, die mühevolle Suche nach Wohnungen, die Briefe vom Jobcenter überfordern viele Geflüchtete. „Die Papiere, die Termine – daran denken wir alle jeden Tag“, sagt sie. „Aber wenn du hier ankommen willst, musst du akzeptieren, wie Deutschland funktioniert – und deinen inneren Protest dagegen runterschlucken“, sagt sie.

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Eins aber bleibt unerträglich für Julia: Täglich die Nachrichten zu sehen über die Kämpfe, die Bomben und das Sterben in der Ukraine, die Sorgen um die Eltern, Verwandten und Freunde – auch um jene, die zurückgehen. Sie will in Sicherheit bleiben. Und in ihrer neuen Heimat ankommen, jeden Tag ein bisschen mehr.

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