Ukraine wendet sich an Russen

Gefallene russische Soldaten: Nervenkrieg um sterbliche Überreste

Ein ukrainischer Soldat inspiziert ein zerstörtes Militärfahrzeug. Die Ukraine und Russland gehen ganz unterschiedlich mit den Zahlen gefallener und verwundeter Soldaten um.

Ein ukrainischer Soldat inspiziert ein zerstörtes Militärfahrzeug. Die Ukraine und Russland gehen ganz unterschiedlich mit den Zahlen gefallener und verwundeter Soldaten um.

Moskau. Der Begriff „Cargo 200″ ist in Russland weithin geläufig. Er ist ein Euphemismus, der sich auf die Zinksärge bezieht, in denen gefallene Soldaten per Transportmaschine vom Schlachtfeld zur Bestattung in die russische (beziehungsweise früher: sowjetische) Heimat befördert werden.

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Die Bezeichnung soll auf den Befehl Nr. 200 des Verteidigungsministeriums der Sowjetunion zurückgehen, der am 8. Oktober 1984 herausgegeben wurde und das standardisierte Höchstgewicht für den Lufttransport eines verstorbenen Soldaten auf 200 Kilogramm festlegte. Der Terminus wurde in den späten 1980er-Jahren im sowjetischen Militär oft verwendet, denn es gab genug Anlass dafür: Im Afghanistan-Krieg von 1979 bis 1989 verloren insgesamt 26.000 sowjetische Soldaten ihr Leben.

Im Jahr 2007 kam der russische Regisseur Alexeij Balabanow in einer filmischen Abrechnung mit der dekadenten Sowjetunion der Achtzigerjahre auf den Ausdruck zurück, als er seinem damaligen Neo-Noir-Thriller den zynischen Titel „Cargo 200″ gab. Der Film, der in provozierender Weise die schreckliche und grausame Seite des Menschen thematisiert, bekam Beifall von den Kritikern, sorgte in Russland aber für einen Eklat und durfte in vielen Städten nicht vorgeführt werden.

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Verbleib von russischen Soldaten ist oft fraglich

Nicht zu Gesicht bekommen soll die russische Bevölkerung nun auch die Webseite 200rf.com, die vom ukrainischen Innenministerium eingerichtet und von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation inzwischen blockiert worden ist.

Die Internetadresse ist eine Anspielung auf den Begriff „Cargo 200″. Angehörigen von russischen Soldaten, die gefallen oder in ukrainische Gefangenschaft geraten sind, soll die Seite ermöglichen, sich Klarheit über das Schicksal ihrer Brüder, Söhne und Enkel zu verschaffen. Denn die russische Staatsmacht betreibt bisher eine ausgesprochen restriktive Informationspolitik, was die Zahl der Verluste bei ihrem Einmarsch in die Ukraine angeht.

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Der Rubel ist auf ein Rekordtief gefallen. Auf einigen Handelsplattformen stürzte er in der Nacht um mehr 40 Prozent ab.

Die Initiative mit dem Namen „Ischtschi Svoich“ („Sucht nach Euren Angehörigen“) zielt natürlich vor allem darauf ab, die Moral und die Unterstützung für den Krieg in Russland zu untergraben, wo die Ungewissheit über den Verbleib von Soldaten, zu denen der familiäre Kontakt abgerissen ist, jeden Tag wächst.

Die höheren Verluste hat immer die Gegenseite

Wadim Denisenko, ein Berater des ukrainischen Innenministers, warf der russischen Regierung vor, sich bei der Rückgabe sterblicher Überreste von russischen Soldaten nicht kooperativ zu zeigen: „Aus diesem Grund sind wir gezwungen, uns an Sie, die Bürger Russlands, direkt zu wenden, damit Sie diejenigen finden können, die auf unserem Territorium getötet wurden – und zwar, weil er auf der Grundlage eines verabscheuungswürdigen Befehls Ihres Präsidenten illegal unsere Grenze überquert hat“, sagte Denisenko in einem Videoappell, den das ukrainische Innenministerium auf seinem offiziellen Youtube-Kanal veröffentlichte.

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Im Augenblick herrscht große Unklarheit darüber, wie hoch die russischen Verluste tatsächlich sind: Das Verteidigungsministerium in Moskau hat bislang noch keine Angaben über die Zahl der getöteten, verwundeten oder gefangenen russischen Soldaten gemacht, seit der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar begann.

Fragwürdige Opferzahlen

Dass es überhaupt Opfer auf russischer Seite gibt, räumte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow erst am Sonntagabend ein: „Die russischen Soldaten beweisen Tapferkeit und Heldentum bei der Ausführung der Spezialoperation“, sagte er der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass. „Leider gibt es unter unseren Kameraden Tote und Verletzte.“ Zahlen nannte der Generalmajor nicht. Er betonte aber, die Verluste seien um ein Vielfaches niedriger als auf ukrainischer Seite.

Das ist in seiner Allgemeinheit leicht dahingesagt, doch es ist andererseits schwer, ein genaueres Bild von der Lage zu bekommen, das zutreffend ist. Die Ukraine nennt zwar regelmäßig exakte Opferzahlen, doch diese wirken für Russland über- und für die Ukraine untertrieben.

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So teilte etwa das ukrainische Militär am Samstag mit, dass Russland circa 4300 Militärangehörige verloren habe, wobei nicht ersichtlich war, wie hoch der Anteil der Gefallenen, Verwundeten und Gefangenen an diesem Wert ist. Einen Tag zuvor hatte es von gleicher Stelle geheißen, dass mehr als 3500 russische Soldaten getötet worden seien. Eine unabhängige Bestätigung dieser Angabe gab es allerdings nicht.

Ein Paar umarmt sich am Bahnhof von Kramatorsk, bevor die Frau in Richtung Westukraine abreist. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) etwa 368.000 Menschen auf der Flucht.

Ein Paar umarmt sich am Bahnhof von Kramatorsk, bevor die Frau in Richtung Westukraine abreist. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) etwa 368.000 Menschen auf der Flucht.

Jedes menschliche Schicksal hat seine eigene Dimension

Wenn es um die eigenen Verluste geht, haben die ukrainischen Angaben eine ganz andere Größenordnung: 137 ukrainische Opfer habe der Krieg an seinem ersten Tag gefordert, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj am vergangenen Freitag mit. Am Samstag meldete sich der ukrainische Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko auf Facebook zu Wort und sprach davon, dass am Vortag 198 getötete Ukrainer zu beklagen gewesen seien.

Die Erklärung des Mediziners enthielt jedoch nur wenige Einzelheiten, womit er der Vermutung Vorschub leistete, dass die tatsächliche Zahl der Opfer möglicherweise zu niedrig angesetzt ist. Ein hochrangiger westlicher Geheimdienstmitarbeiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagte der „Washington Post“, dass er die Angaben der Ukraine als „furchtbar niedrig“ einschätze.

Unabhängiger Experte nennt eigene Zahlen

Ein realistischeres Bild von der Lage ist womöglich von Ruslan Lewijew zu bekommen, Gründer des nichtstaatlichen Conflict Intelligence Teams (CIT), einer Arbeitsgruppe, die das russische Militär mittels Open-Source-Intelligence analysiert. Er sprach im unabhängigen Internetfernsehsender „Nastojaschtschee Wremja“ von 500 russischen Soldaten, die in dem Konflikt getötet worden seien. Eine Zahl, die deutlich unter den ukrainischen Angaben liegt, aber über dem, was offiziell von Russland verlautbart wird.

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Dass jenseits der reinen Zahlen jedes einzelne menschliche Schicksal eine ganz eigene Dimension hat, wird auf der ukrainischen Website 200rf.com schmerzlich erfahrbar. Die Seite und der dazu gehörende Telegram-Kanal zeigen zum Teil unerträgliche Fotos und Videos von Soldaten, die im Kampf getötet wurden, sowie die Verhöre gefangener russischer Soldaten vor laufender Kamera.

In den gezeigten Beiträgen geben viele der angeblich Gefangenen zu Protokoll, betrogen worden zu sein. „Uns wurde gesagt, dass wir ins Manöver ziehen“, sagt Aleksej. „Als mir klar wurde, dass wir im Krieg sind“, sagt ein Kamerad von derselben Einheit, „habe ich dagegen aufbegehrt. Aber sie haben mir gedroht: ‚In Kriegszeiten kannst du für Meuterei erschossen werden.‘“

In einem anderen Beitrag wird ein angeblicher Kriegsgefangener gefragt, ob er eine Nachricht für seine Mutter und seinen Vater habe: „Mama und Papa, ich wollte nicht hierherkommen. Sie haben mich dazu gezwungen“, sagt der Mann.

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Ob die Kriegsgefangenen die Wahrheit sagen und welcher Druck auf sie ausgeübt worden sein könnte, bevor sie vor der Kamera auftraten, lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Ihre Aussagen fallen unter den Vorbehalt, dass die Wahrheit im Krieg zuallererst stirbt. Verstörend ist ihr Zeugnis aber in jedem Fall.

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