Gedenktag 9. November: Warum wir das Schicksal in die eigene Hand nehmen sollten

Jubelnde Menschen stehen am 09.11.1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor. Nach der Öffnung eines Teils der deutsch-deutschen Grenzübergänge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 reisten Millionen DDR-Bürger für einen Besuch in den Westen.

Jubelnde Menschen stehen am 09.11.1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor. Nach der Öffnung eines Teils der deutsch-deutschen Grenzübergänge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 reisten Millionen DDR-Bürger für einen Besuch in den Westen.

Göttingen. Der 9. November ist oft als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet worden. Wie in einem Brennglas vereint er Glanz und Elend der neueren deutschen Geschichte: Das Scheitern der März-Revolution von 1848, die Ausrufung der Republik 1918, der Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, die Reichspogromnacht von 1938 und der Mauerfall von 1989 – all diese Ereignisse sind mit dem sogenannten Schicksalstag verbunden.

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Robert Blum, der Anführer der gemäßigten politischen Linken im Frankfurter Paulskirchenparlament, wurde durch seine standrechtliche Erschießung am 9. November zur Symbolfigur der Revolution von 1848. Sein Tod bedeutete den Umbruch hin zum Ende. Das erste demokratisch gewählte gesamtdeutsche Parlament blieb zunächst eine Episode.

Es sollte noch einmal 70 Jahre dauern, bis sich die Demokratie in Deutschland durchsetzen konnte. Am Ende des furchtbaren Ersten Weltkriegs forderten Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg, die faktischen Machthaber des Reiches, Ende September 1918 einen schnellen Friedensschluss auf Grundlage des 14-Punkte-Programms von US-Präsident Wilson.

Zynisches Kalkül und eine Scheindemokratie

Dahinter stand zynisches Kalkül: „Ich habe Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind“, sagte Ludendorff. „Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.“

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Das war im Kern die Dolchstoßlegende. Eine Scheindemokratie unter einem Reichskanzler Prinz Max von Baden mit einigen Alibi-Demokraten im Kabinett und unverändert mit Kaiser Wilhelm II. an der Spitze sollte jedoch nicht ausreichen, um dem Veränderungsdruck zu begegnen, der jetzt anstand. Im Zuge der Novemberrevolution, am 9. November, dankte Wilhelm II. ab. Wenige Stunden später rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann aus einem Fenster des Reichstags die Republik aus.

Der Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8. und 9. November 1923 wirkt fast wie ein bewusstes Echo auf die Ereignisse des 9. November 1918. Als sollte durch den „Marsch auf die Feldherrenhalle“, der in bewusster Anlehnung an Mussolinis „Marsch auf Rom“ geschah, die demokratische Entwicklung des Deutschen Reiches auch symbolisch umgekehrt werden.

Das dunkelste Kapitel und die friedliche Revolution

Es ist der 9. November 1938, der mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte in direkter Verbindung steht und der sich 2018 zum 80. Mal jährte. Das Datum steht für die Intensivierung einer Entwicklung, die in der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete. SA-Truppen und Angehörige der SS organisierten in der Reichspogromnacht im Hintergrund den „spontanen Volkszorn“, der sich dann in gewalttätigen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung „entlud“.

Nach der Niederlage im von Deutschland losgebrochenen Zweiten Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch des Holocaust wurde Deutschland für Jahrzehnte geteilt. Dazwischen standen Mauer und Stacheldraht. Im Jahre 1989 ereignete sich dann die wohl bizarrste Episode, die mit dem Datum des 9. November in Verbindung steht, als Ostberlins SED-Chef Günter Schabowski „aus Versehen“ die Mauer öffnete.

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Die Wiedervereinigung in Demokratie und Freiheit, die am 3. Oktober 1990 erfolgte, war ein Geschenk für die Deutschen. Anders als nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848, anders als nach der Novemberrevolution von 1918, aus der die instabile Weimarer Republik hervorging, sollte die „friedliche Revolution in der DDR“ zu einem deutschen Gemeinwesen führen, das freiheitlich, liberal und sozial eine Strahlkraft weit über die Landesgrenzen hinaus entfaltet und als verlässlicher Partner in Europa und in der Welt wirkt. Erstmals in der Geschichte wurden die Deutschen in Gänze, in den Worten Willy Brandts, „ein Volk guter Nachbarn“.

Göttliche Mächte – oder Menschen und ihre Interessen?

Es wurde eingangs vom 9. November als „Schicksalstag“ gesprochen. Doch handelte es sich bei den genannten Geschehnissen wirklich um „Schicksal“, um Abläufe von Ereignissen, die von göttlichen Mächten vorherbestimmt und der Entscheidungsfreiheit der Akteure entzogen waren? Oder waren nicht vielmehr Menschen mit ihren jeweiligen Motivationslagen und Interessen am Werk, die sowohl zum Weg demokratischen Aufbruchs als auch zu unvorstellbarem Grauen willens und in der Lage waren?

Handelte es sich nicht jeweils eigentlich um „Politik“, um die „öffentlichen Dinge“, um die Folgen von bewussten Entscheidungen, aber auch die Folgen von Unterlassungen, von Unachtsamkeit gegenüber dem Wohlergehen des Anderen?

Beides, „der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht“, von denen Fritz Stern, der US-amerikanische Historiker deutscher Herkunft, gesprochen hat, entfaltet auch heute noch seine Kraft und Sogwirkung. Dies geschieht in einem Umfeld, in dem das Staatsmodell der liberalen Demokratie und die Institutionen des Multilateralismus weltweit herausgefordert werden.

Der Westen steht vor einer Wegscheide

Der Westen, dieses durch die Gewaltenteilung, durch unveräußerliche Menschenrechte, den Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie charakterisierte „normative Projekt“ (Heinrich August Winkler), steht vor einer Wegscheide.

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Herausforderer ist ein neuer wie altvertrauter Autoritarismus, der die Gewaltenteilung als „Hindernis des Volkswillens“ diffamiert, Menschenrechte zur Disposition stellt, sich den Rechtsstaat durch Manipulation der Judikative gefügig macht und leicht manipulierbare Volksabstimmungen gegen die repräsentative Demokratie ins Feld führt, bei denen Minderheitsrechte auf der Strecke bleiben und momenthafte Empörung an die Stelle von sorgfältiger Abwägung tritt.

Die Zukunft „kommt“ nicht, sie wird „gemacht“

Der 9. November bietet Anlass, darüber nachzudenken, welche Lehren wir aus unserer Geschichte ziehen, um uns unseres eigenen historischen Ortes, unserer Gegenwart zu vergewissern und um uns fit zu machen für eine Zukunft in Frieden und Freiheit, die wir bewusst gestalten wollen und die nicht schicksalhaft über uns kommt.

Der Philosoph Richard David Precht, der an der Politik oftmals kein gutes Haar lässt, stellt in seinem jüngsten Buch diesbezüglich die richtigen Fragen: Die Zukunft „kommt“ nicht, sie wird „gemacht“. Es ist nicht die Frage, wie wir leben „werden“, sondern wie wir leben „wollen“. Diese Frage sollte uns leiten; jedes Jahr am Gedenktag und darüber hinaus.

Dr. Karl Adam

Dr. Karl Adam

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Zur Person: Dr. Karl Adam (39) ist Historiker und Politologe. Auf seinem Blog ­ImGegenlicht.com schreibt er über Geschichte, Politik und Zeitgeschehen. Er ist als Ratsmitglied in der Göttinger Kommunalpolitik tätig und engagiert sich bei der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und der Europa-Union.

Von Karl Adam

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