Fünf Gründe, warum Söder seinen Vize Aiwanger nicht rauswirft
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Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.
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Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält am Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger als seinem Vizeregierungschef fest. Trotz massiver Kritik an Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen rund um ein antisemitisches Flugblatt und eine rechtsradikale Vergangenheit als Gymnasiast hatte Söder am Sonntag erklärt, ihn nicht aus der Landesregierung von CSU und Freien Wählern zu entlassen. Zudem wolle er an der Koalition nach der Wahl am 8. Oktober festhalten.
Klar ist, dass es Söder darum ging, weiteren Schaden an seiner eigenen Stellung als Regierungschef und vor allem als Wahlkämpfer abzuwenden. Denn ein Rauswurf Aiwangers wäre einer Aufkündigung der Koalition mit den Freien Wählern gleichgekommen. Das wäre einen Monat vor der Bayern-Wahl zwar egal für die Regierungsgeschäfte gewesen – aber zentral für den Wahlkampfendspurt. Doch welche Abwägungen traf Söder? Welches Kalkül steckt dahinter? Wir nennen fünf Gründe, warum der CSU-Chef an Aiwanger festhält:
1. Söder fürchtet einen Wahlkampf der Freien Wähler gegen die CSU
Sein Auftritt bei der Erdinger Kundgebung gegen das Heizungsgesetz der Ampelregierung im Juni war für Söder ein einschneidendes Erlebnis: Während Aiwanger dort von Tausenden für seine populistische Rede bejubelt wurde, erntete der Ministerpräsident Buhrufe und Pfiffe. Spätestens da muss Söder erkannt haben: Die Freien Wähler, die der CSU in den bisherigen Wahlkämpfen erfolgreich Konkurrenz von rechts gemacht hatten, in seine Regierung einzubinden, immunisiert ihn nicht automatisch gegen rechtspopulistische Angriffe.
Markus Söder attackiert auf Kundgebung Bundesregierung und wird heftig ausgebuht
In Erding protestieren rund 13.000 Menschen gegen das Heizungsgesetz der Ampel. Auf der Bühne spricht auch Bayerns Ministerpräsident. Das gefällt nicht allen.
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Im Gegenteil: Söder muss fürchten, dass sein Koalitionspartner ihn als Teil des verhassten Establishments hinstellt und unzufriedene CSU-Anhänger für die Freien Wähler gewinnt. In einer Fortsetzung der Koalition würden sich dann die Machtverhältnisse zugunsten von Aiwanger verschieben. Ein Bruch mit Aiwanger hätte genau dazu geführt: dass die Freien Wähler in ihrem Wahlkampf gegen „die da oben“ vor allem auf die CSU gezielt hätten – womöglich mit Erfolg.
2. Söder hält an seinem Lagerwahlkampf gegen die Grünen fest
Angesichts der schlechten Umfragewerte für die Bundesregierung hat sich Söder im aktuellen Wahlkampf für eine klare Anti-Ampel-Strategie entschieden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grünen als Feindbild. Die CSU hat die Erfahrung gemacht, dass sie – jedenfalls im Bierzelt – den größten Applaus dafür erhält, die Ökopartei zu kritisieren und als „Verbotspartei“ hinzustellen, die man aus der Landesregierung fernhalten müsse.
Würde er die Koalition mit den Freien Wählern platzen lassen, stünde Söder ohne klare Machtoption da. Er müsste sich vier Wochen lang mit der Frage herumschlagen, ob er nun doch mit den Grünen koalieren wolle oder eine Ampel fürchten müsse – oder am Ende doch wieder bei Aiwanger anklopfen müsse. Im Vergleich zur bislang erfolgreichen Strategie, sich als „bürgerliches“ Bollwerk hinzustellen – hier gegen Grüne und dort gegen die AfD – erschien ihm das als hochriskant für die CSU.
3. Söder hat sich nach der öffentlichen Stimmung in Bayern ausgerichtet
Egal, um welche Affäre es geht: In der breiten Öffentlichkeit wird früher oder später nur noch über Schlagworte debattiert. War es schlimm, dass der Verteidigungsminister einst in seiner Doktorarbeit schummelte? Kann man dem Rocksänger eine Vergewaltigung gerichtsfest nachweisen? Und muss man einen Minister entlassen, weil er vor 35 Jahren eine Jugendsünde begangen hat?
Sobald der Beschuldigte es schafft, die eigentlichen Vorwürfe so zu vereinfachen und so umzudeuten, kippt die öffentliche Meinung schnell. Den Medien werden niedrige Beweggründe und Stimmungsmache vorgeworfen, der Täter kann sich als Opfer inszenieren.
Aiwanger setzt Wahlkampf einfach fort
Als Ministerpräsident Söder seine Entscheidung über Aiwangers Verbleib im Amt bekannt gibt, badet der schon im Bierzelt in der Menge.
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Markus Söder ist bekannt dafür, sich ohne Rücksicht auf frühere Aussagen oder gar eine eigene Haltung an Stimmungen im Wahlvolk – vor allem unter seiner Anhängerschaft – auszurichten. Auch im Fall Aiwanger glaubt der CSU-Chef nun, dessen Kritikerinnen und Kritiker wählen ohnehin nicht CSU, während deren Zielgruppe sich zunehmend mit Aiwanger solidarisiert. Söders Erklärung, in der Gesamtabwägung wäre eine Entlassung aus dem Amt „nicht verhältnismäßig“ gewesen, deutet darauf hin.
Am Montag brachte Bayerns Umweltminister und Aiwangers Parteifreund, Thorsten Glauber, in seiner Gillamoos-Rede diese Stimmung auf den Punkt: „Wer das Denunziantentum unterstützt, der hat in diesem Land nichts verloren.“ Söder denkt, dass er die Debatte nicht mehr gewinnen kann – also will er sie schnellstens beenden.
4. Söder fürchtet einen Solidarisierungseffekt am rechten Rand
Zum Erfolgsrezept der CSU in Bayern gehörte in den letzten Jahren, die Konkurrenz am rechten Rand kleinzuhalten: Da SPD, Grüne und FDP im Freistaat traditionell schwach sind, bleibt die CSU selbst bei schwindendem Erfolg die stärkste Kraft – und kann sich einen pflegeleichten Juniorpartner aussuchen. Das würde jedoch schwieriger, wenn AfD und Freie Wähler ihr allzu viele Wähler und Wählerinnen abspenstig machen.
Aiwanger mit seinen Aussagen gegen Euro-Rettung, Corona-Impfung, Klima- und Asylpolitik sowie zuletzt auch zweifelhaften Sprüchen zur Demokratie in Deutschland erwies sich dabei als hilfreich gegen die AfD, weil er ihr Wählende abspenstig machte, und zugleich als harmlos genug, um Koalitionspartner zu sein. Da schon die Kritik an Aiwanger dazu führte, dass auch CSU- und AfD-Anhängerinnen und -Anhänger sich mit ihm solidarisierten, musste Söder damit rechnen, dass eine Entlassung einen regelrechten Zustrom von AfD-Wählenden auslöst. Ein bequemer Koalitionspartner wären die Freien Wähler dann nicht mehr gewesen.
5. Söder vergleicht den Skandal mit anderen Jugendsünden
Selbst bei Markus Söder darf man unterstellen, dass er nicht ausschließlich und zu 100 Prozent aus Machtkalkül und Opportunität gehandelt hat. Womöglich schlummert tief in ihm auch eine politische Haltung – und womöglich neigte er im Fall Aiwanger tatsächlich zu der Einstellung, die er in seiner Erklärung vom Sonntag geäußert hat: dass das antisemitische Flugblatt 35 Jahre alt und die Autorenschaft nicht eindeutig geklärt ist; dass Aiwanger sich entschuldigt und Reue gezeigt habe. Gerade als Chef einer konservativen Partei dürfte er auch an den rot-grünen Außenminister Joschka Fischer und andere Spitzen-Grüne gedacht haben, deren linksradikale Jugend später zwar Thema, ihnen aber nicht zum Verhängnis geworden war.