Forscher, Rocker, Dissidenten: Steinmeiers bunte Verdienstkreuze
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Udo Lindberg nimmt seinen Orden entgegen.
© Quelle: imago images/Eibner
Berlin. Es sind außergewöhnliche Szenen, die sich nach der diesjährigen Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der Deutschen Einheit im Schloss Bellevue abspielen:
Eine der gerade Geehrten spricht einen der anderen Geehrten schüchtern an, sie sei früher immer ein Fan seiner Platten gewesen und nun sehr stolz, mit ihm hier zu sein. Die kleinen Töchter einer weiteren Ausgezeichneten sammeln unter den Mit-Ausgezeichneten Autogramme ins Programmheft mit der schwarz-rot-goldenen Kordel.
Und während die Ex-Bürgerrechtler mit dem frisch angehefteten Orden an der Presse vorbei zum Empfang nebenan huschen, lassen die Fernsehteams und Fotografen nicht vom Popstar unter den Ordensträgern ab – der ihnen routiniert die Posen und Sprüche liefert, nach denen sie gieren.
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Auch Astronauten Alexander Gerst war unter den 25 Frauen und Männern, die der Bundespräsident zum Tag der Deutschen Einheit für ihre Verdienste um das Land mit dem Verdienstorden ausgezeichnet hat.
© Quelle: Wolfgang Kumm/dpa
Der letztgenannte ist Altrocker Udo Lindenberg – geehrt, weil er wie kein anderer gegen die deutsche Teilung angesungen habe; unter den weiteren neuen Bundesverdienstkreuz-Trägern sind die sozial engagierte Schauspielerin Kati Stüdemann, die aus Magdeburg stammt und da Fan des DDR-Dissidenten und Liedermachers Stephan Krawczyk war; die Karlsruher Informatik-Pionierin Britta Nestler konnte ihre Töchter unter anderem mit der Anwesenheit des Raumfahrt-Popstars Alexander Gerst aus Köln begeistern.
Und sie alle verbindet eins, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Mittwoch in Berlin erklärte: "Sie alle stehen dafür, dass wir etwas verändern und die Welt von morgen mitgestalten können, im Osten wie im Westen, von den Tiefen der Ozeane bis in die Höhen des Alls."
Keine blutleere Feierstunde bitte
Es ist ein großer Bogen, den er und sein Bundespräsidialamt bei der Auswahl der diesjährigen Ehrenträger schlagen. Aber Steinmeier hat nicht nur Halbzeit als Staatsoberhaupt, er war auch lange genug Politiker, um Tausende blutleere Rituale und vom Protokoll zur musealen Langeweile geformte Gedenkstunden erlebt zu haben. Und um eben nun, im 30. Jahr des Mauerfalls und mitten in der hitzigsten Ost-West-Debatte seit Jahrzehnten, die Verleihung der Verdienstkreuze etwas spektakulärer zu gestalten.
So geht der Orden zwar überwiegend an Persönlichkeiten vor allem aus dem Osten, aber auch einige Komplizen aus dem Westen, die sich um die Friedliche Revolution von 1989 verdient machten: Der ehemalige Berliner Jugendpfarrer Rainer Eppelmann etwa, heute Vorstandschef der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dessen Forderung "Frieden schaffen ohne Waffen" bis heute Mahnung sei, wie es in der Laudatio heißt.
Und Kathrin Mahler Walther beweist, dass es schon vor "Fridays For Future" 16-jährige Heldinnen gab: Sie hatte sich in diesem Alter in der DDR-Opposition engagiert und wesentlich dazu beigetragen, dass die TV-Bilder von der Leipziger Massendemo am 9. Oktober 1989 um die Welt gingen. Den wohl stärksten Applaus erhalten Eva und Jens Reich, Mitbegründer der ersten DDR-Oppositionspartei "Neues Forum", die als Hoffnungsträger von 1989 bis heute viel Optimismus ausstrahlten.
Doch hinzu kamen eben auch ganz andere Persönlichkeiten, die mit Mut und Engagement "Grenzen gesprengt haben", wie Steinmeier lobt. Darunter sind auch der bereits mit 30 Jahren weltberühmte Mathematiker Peter Scholze aus Bonn, die gefeierte klassische Sängerin Tomoko Masur und die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier, Entdeckerin der Gen-Schere, die die internationale Erbgut-Forschung revolutioniert habe.
Offenbar wichtig bei der Auswahl: Alle Ordensträger sind bis heute im Dienste der Gesellschaft aktiv, viele davon engagieren sich für Gesellschaft und Demokratie. "Der Kampf für Freiheit und Demokratie ist ganz offensichtlich nicht ein für allemal erledigt", sagt Steinmeier dazu in seiner Ansprache. "Auch bei uns in Deutschland erleben wir, wie Freiheit und Menschenwürde angefochten werden, wie das Gift des Hasses in die Sprache und die Gesellschaft einsickert, wie Menschen sich abwenden von der Demokratie."
Tatsächlich hatte eine just an diesem Tag veröffentlichte Umfrage für die „Zeit“ ergeben, dass 80 Prozent der Ostdeutschen ihre Leistungen vom Westen seit der Wiedervereinigung nicht ausreichend gewürdigt finden. "Viele ostdeutsche Geschichten sind noch kein selbstverständlicher Bestandteil unseres gesamtdeutschen ‚Wir‘ geworden", sagt der Bundespräsident zu den Gründen.
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Allerdings beklagten in der Umfrage 58 Prozent der Ostdeutschen sogar, sie fühlten sich heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt als in der DDR; 41 Prozent finden, man könne seine Meinung heute nicht freier äußern als noch vor dem Mauerfall.
Nach der Feierstunde darauf angesprochen, zeigt der einstige DDR-Dissident Stephan Krawczyk – der 1987 nach einem offenen Brief für mehr Meinungsfreiheit in der DDR Berufsverbot, Stasihaft und Ausbürgerung erlitt – für diese Sicht Verständnis: Die öffentlichen Debatten würden bewusst polarisiert, von Rechts wie Links würden Ideologien propagiert, auch im Journalismus. Die Klima-Debatte sei so ein Beispiel. Im Osten reagiere man darauf besonders sensibel, sagt Krawczyk: „Die Erfahrung der Diktatur schafft ein Bewusstsein dafür, wenn man bevormundet werden soll.“
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Ein paar Schritte weiter erklärt Udo Lindenberg in die Kameras, dass er sich nie als reiner Entertainer gesehen habe und sich heutzutage mehr Europa, mehr Eintreten gegen Rechts und mehr Klimaaktivisten wünscht.
Während der Zeremonie hatten Lindenberg und Krawcyk nebeneinander gesessen, getuschelt und einander zugezwinkert. Wenn man sie nun hört, scheint sie ebenso viel zu einen und zu trennen wie Ost und West - passendere Preisträger für den Verdienstorden zum 3. Oktober 2019 hätte es kaum geben können.
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