Flucht: das verdrängte, aber noch lange nicht gelöste Thema
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Geflüchtete auf einem Boot im Mittelmeer: Noch immer sterben hier Menschen. Auch deshalb, weil die EU unzureichend reagiert.
© Quelle: Bruno Thevenin/AP/dpa
Berlin. Vom Mittelmeer gibt es in den vergangenen Tagen folgende Meldungen: Zwei Boote mit 200 Flüchtlingen aus Syrien werden vor Zypern aufgegriffen. Die tunesische Marine rettet 100 Menschen aus einem sinkenden Schlauchboot. Über 400 Flüchtlinge werden von dem Seenotrettungsschiff „Sea Eye 4“ in Sizilien an Land gebracht, 150 davon sind minderjährig. In Marokko schwimmen Tausende vorbei am großen Grenzzaun an den Strand der spanischen Exklave Ceuta.
Nicht selten geht es weniger glimpflich aus: Über 40 Tote nach dem Kentern eines Flüchtlingsboots vor der tunesischen Küste, heißt es dann. Oder: über 100 Tote vor der libyschen Küste. Mehr als 1000 Menschen sind laut UN 2020 auf der Flucht übers Mittelmeer gestorben. In diesem Jahr waren es demnach bereits über 600.
Hunderte Flüchtlinge auf Lampedusa angekommen
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der angekommenen Migranten mehr als verdoppelt.
© Quelle: Reuters
Es sind bedrückende Zahlen. Und es sind eindrucksvolle Bilder, die sie oft begleiten. Erschöpfte Menschen, die an Stränden liegen oder von Schiffen wanken. Das Baby im gestreiften Strampelanzug, das von einem Helfer in Ceuta an den Strand getragen wird. Dazu kommen die Erzählungen der Menschen aus den Flüchtlingslagern in Griechenland, die von schlechter Versorgungslage berichten, von Krankheiten und vor allem von Hoffnungslosigkeit. Jahrelang harren sie oft schon dort aus.
Ab und zu streift ein Scheinwerfer diese Ereignisse, aber in der Öffentlichkeit ist das Flüchtlingsthema längst zum Randthema geworden, verdrängt erst von der Klimapolitik, dann von Corona.
Aus dem Bewusstsein ist das Thema nicht verschwunden. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat vor Kurzem im Auftrag der Bertelsmann Stiftung gefragt, in welchem Feld sich Bundesbürger am dringendsten eine andere Politik wünschten. Die häufigste Antwort war: beim Klima. Dicht dahinter folgte an zweiter Stelle die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Bei FDP-, Unions- und AfD-Sympathisanten, bei den Männern und bei den Ostdeutschen landete der Themenkomplex auf Platz eins. Vor allem in einem Bundestagswahljahr ist das eine interessante Feststellung.
Zahl der Geflüchteten mit 80 Millionen Menschen auf einem Rekordhoch
2017 war der Umgang mit Flüchtlingen das bestimmende Wahlkampfthema, nach dem großen Ansturm von Flüchtlingen im Jahr 2015, die vor dem Krieg in Syrien flohen und vor der Unterversorgung in Lagern in der Region. CDU und CSU, die sich zuvor über den Kurs in der Migrationspolitik tief zerstritten und gegenseitig die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen hatten, brachen bei der Wahl ein. Der AfD gab es einen Auftrieb, der sie in den Bundestag spülte.
Seitdem sind die Gesamtflüchtlingszahlen in der EU drastisch zurückgegangen. 476.000 Asylanträge wurden in Deutschland 2015 gestellt, 2016 waren es 750.000. Vergangenes Jahr war die Zahl auf 122.000 gesunken.
Weltweit aber ist die Zahl der Geflüchteten auf einem Rekordhoch: 80 Millionen Menschen nennt die UN. Das ist ein Prozent der Weltbevölkerung. Jeder Hundertste also.
Die meisten davon – 85 Prozent – bleiben innerhalb ihres Landes oder ihrer Region. Die EU sieht nur einen Bruchteil dieser Menschen.
Das Mittelmeer gilt als „tödlichste Grenze der Welt“
Die kommen vor allem über das Mittelmeer. Auf dem Weg über die Türkei und Griechenland ist derzeit weniger los. Die Bundesregierung registriert eine Zunahme von Migranten auf der sogenannten westmediterranen Route über Marokko, Mauretanien und den Senegal auf die Kanarischen Inseln und das spanische Festland.
Deutlich mehr Flüchtlinge kämen in den vergangenen Monaten auch wieder auf der zentralen Route zwischen Tunesien und Libyen und Italien. Nach Einschätzung der Regierung liegt das auch am Wetter, im Frühjahr und Sommer ist die See ruhiger.
Junge aus Marokko: „Ich würde lieber sterben, als zurückzugehen“
Die Bilder von ihm gingen um die Welt. Mit Plastikflaschen ist er über das Meer in die spanische Exklave Ceuta geschwommen.
© Quelle: Reuters
Gerade erst hat die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, die frühere chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, hervorgehoben: „Die wahre Tragödie ist, dass so viel Leid und Tod auf der Route über das zentrale Mittelmeer vermieden werden könnten.“
Bei Experten gilt das Meer, das in Europa lange eigentlich das Synonym für Urlaub war, weiter als „tödlichste Grenze der Welt“.
Die AfD spricht sich gegen jede Form der Zuwanderung aus
Mit der Aufmerksamkeit für die Flüchtlingspolitik schwand auch der Zuspruch zur AfD, flankiert durch parteiinterne Kurskämpfe. Mittlerweile hat sich der rechtsextreme Flügel durchgesetzt, im Wahlprogramm wird quasi jede Art von Zuwanderung abgelehnt.
Bundestagswahl-Spitzenkandidatin Alice Weidel versichert, das Hauptthema der Partei werde die Bewältigung der Pandemiefolgen sein. In Landtagswahlkämpfen warnen AfD-Politiker vom Massenimport von „Drogendealern und Messerkriminalität“.
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Manche in der CDU haben durchaus Bedenken: Wenn die Zahl der Flüchtlinge wieder drastisch zunehme, könne dies den Wahlkampf belasten. In der Parteizentrale gibt man sich gelassen: Der Fokus des Wahlkampfs werde voraussichtlich auf den Corona-Folgen liegen. Ein Wahlprogramm, in dem die Programmatik nachzulesen wäre, hat die Union noch nicht.
Zwar hatte Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer kurzen Zeit als Parteichefin zwischenzeitlich versucht, die innerparteilichen Lager zu versöhnen – über eine Diskussionsveranstaltung mit Eckpunktepapier. Aber als Armin Laschet vergangenen Sommer das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos besuchte – damals noch nicht als Kanzlerkandidat, sondern als NRW-Ministerpräsident und Kandidat für den CDU-Vorsitz –, zeigten sich nicht wenige in seiner Partei entsetzt. Es sei völlig unnötig, die Aufmerksamkeit wieder auf dieses schwierige Thema zu lenken, hieß es.
SPD und Linkspartei richten Fokus im Wahlkampf nicht auf Geflüchtete
Auch im Willy-Brandt-Haus sieht man Pandemie und Klimapolitik als zentrale Wahlkampfthemen. In ihr „Zukunftsprogramm“ hat die SPD die recht allgemeine Forderung nach einem „funktionsfähigen europäischen Asylsystem“ und nach einem „umfassenden Ansatz für legale Migration“ geschrieben.
Linkspartei-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch sagt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Flucht- und Migrationspolitik werden kaum eine zentrale Rolle im Bundestagswahlkampf spielen. Wir fokussieren auf die sozialen, finanziellen und kulturellen Folgen der Pandemie.“
Bei der FDP sieht man das etwas anders. Das Thema sei so schwierig, dass es „allzu gern verdrängt wird“, sagt die Flüchtlingsexpertin und ehemalige Generalsekretärin Linda Teuteberg dem RND. „Fragen der Migrations- und Integrationspolitik müssen und werden im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen, weil sie viele Menschen bewegen und für unser Land von großer Bedeutung sind.“ Von einer wirksamen rechtsstaatlichen Kontrolle und Steuerung des Migrationsgeschehens könne weiter keine Rede sein. Leider sei die Debatte darüber festgefahren und polarisiert.
Das Kernproblem liegt bei den uneinigen EU-Mitgliedsstaaten
Grünen-Vizechefin Jamila Schäfer sieht es so: „Das Problem steht tagtäglich auf der Agenda. Nur erfährt es nicht immer die gleiche mediale Aufmerksamkeit. Seit Jahren treten wir auf der Stelle, weil die Fokussierung auf scheinbar unlösbare Probleme den Blick auf die realen Handlungsmöglichkeiten verstellt.“
In ihrem Wahlprogramm skizzieren die Grünen ihre Vorstellungen so: Flüchtende sollen an den EU-Außengrenzen kontrolliert werden und bei Schutzbedarf an Aufnahmeländer weitergeleitet werden. Die Aufnahmebereitschaft soll durch finanzielle Anreize gefördert werden.
Damit ist man beim Kernproblem: Die Uneinigkeit der 27 EU-Mitgliedsstaaten macht es schwer, einen Weg zu finden. Und es müssen viele Wege gefunden werden: Wie geht man um mit den Menschen an der EU-Grenze? Wer nimmt die Schutzsuchenden auf? Was passiert mit denen, die keinen Schutzstatus bekommen? Grenzkontrollen, Flüchtlingsverteilung und Abschiebungen – in allen drei Bereichen hakt es.
Pushbacks widersprechen EU-Recht
Zunächst die Grenzfrage: Derzeit kümmern sich oft private Seenotrettungsschiffe um die Menschen in Schlauchbooten und Kähnen, die Schleuser auf das Mittelmeer setzen. Staatliche Sicherheitskräfte drängen Flüchtlinge ohne Prüfung ihres Falles zurück, an der ungarisch-serbischen, an der kroatisch-bosnischen Grenze.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex übergibt aus dem Meer gefischte Flüchtlinge an Libyen oder sieht weg, wenn der libysche Küstenschutz in internationalen Gewässern agiert. Die UN sagt: Libyen sei „kein sicherer Hafen“. Die sogenannten Pushbacks widersprechen EU-Recht.
Über eine Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Länder wird seit Jahren verhandelt. Länder wie Ungarn blockieren. So kam es, dass etwa Deutschland, Frankreich und die Niederlande Flüchtlinge aus den überfüllten griechischen Lagern aufnahmen – und andere Länder außen vor blieben.
Eine neue Migrationsstrategie der EU-Kommission gibt es bereits
Die neue Migrationsstrategie der EU-Kommission sieht ein dreistufiges Verfahren vor: EU-Staaten sollen sich zunächst freiwillig helfen, Geflüchtete zu übernehmen. Erstankunftsländer wie Griechenland, Spanien und Italien können bei Überlastung aber auch einen Mechanismus für verpflichtende Solidarität auslösen. Jedes EU-Mitgliedsland müsse dann Migranten mit Aussicht auf Schutzstatus übernehmen oder durch Abschiebungen helfen.
Wenn sich die Lage zuspitzt, folgt eine weitere Stufe: Dann sollen die EU-Staaten reihum auch Migranten aufnehmen, die keine Aussicht auf Asyl haben, oder eine bestimmte Anzahl bereits abgelehnter Asylbewerber abschieben. Gelingt ihnen das innerhalb von acht Monaten nicht, muss das entsprechende Land die Menschen selbst aufnehmen. Im September wurde das Konzept vorgestellt. Seitdem war davon nichts mehr zu hören.
Und dann sind da noch die Abschiebungen: Sie werden angeordnet, scheitern aber oft, weil die Herkunftsstaaten kein Interesse an Rücknahme zeigen.
Was also tun? Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat oft die Bundesregierung beraten, er sitzt auch im Beirat für Fluchtursachenforschung der Regierung. „Derzeit wird irreguläre Migration durch Brutalität reduziert“, sagt er dem RND. Stattdessen müsse man auf Zusammenarbeit setzen. „Das ist mühsamer, aber Zivilisation ist immer anstrengend.“ Weil manche den rabiateren Weg den richtigen finden, bringe es nichts, weiter auf Einigkeit aller EU-Staaten zu warten. Manche Länder hätten noch nicht einmal mehr Interesse an der Genfer Flüchtlingskonvention.
„Es gibt einen Zielkonflikt, der Kompromisse unmöglich macht“, sagt Knaus. „Die Frage, welche Grenzen wir haben, ist die Frage, welche Gesellschaft wir sein wollen. Es ist eine Frage der politischen Moral.“ Es sei dann durchaus möglich, dass eine Reihe von Mitgliedsstaaten vorangehe, etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Eine Option sind Abkommen mit den Herkunftsländern
Mit Herkunftsländern wie Tunesien, Marokko, Gambia oder Senegal, aus denen kaum Asylsuchende anerkannt würden, müsse man vereinbaren, dass sie ihre Staatsbürger zurücknähmen. Im Gegenzug zu Rücknahmen könne man für diese Länder mehr Möglichkeiten zur legalen Einreise in die EU schaffen. „Die Erfahrung mit den Westbalkanländern, der Ukraine, Georgien und Moldau zeigt, dass Abschiebungen dann auch funktionieren.“
Knaus gilt als Kopf hinter dem EU-Türkei-Abkommen, in dem sich die Türkei zur Flüchtlingsaufnahme verpflichtete – im Gegenzug zu Reiseerleichterungen. Das Abkommen gilt als gescheitert. Die EU habe sich damit erpressbar gemacht, sagen Kritiker. Knaus sagt, die EU habe ihren Teil des Abkommens nicht eingehalten. Und es gehe nicht um Erpressung, sondern um Diplomatie.
So einfach ist es nicht. Im vergangenen Jahr hat sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vergeblich bemüht, Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten zu schließen. Die Grünen, die sich um das Kanzleramt bewerben, haben immer wieder Probleme damit gehabt, Länder als sichere Herkunftsstaaten zu definieren.
Auch Macron sieht sich vor neuen Herausforderungen
In Frankreich stehen im kommenden Frühjahr Präsidentschaftswahlen an. Amtsinhaber Emmanuel Macron steht seit Langem unter dem Druck der Rechtsextremen Marine Le Pen, die Migrationspolitik des Landes zu verschärfen. Seit der bisherige EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier mit einer Kandidatur liebäugelt, hat Macron noch einen weiteren Gegenspieler. Und Barnier hat schon gewaltig vorgelegt. Er fordert, dass für drei bis fünf Jahre gar keine Flüchtlinge mehr nach Frankreich kommen sollen.
Inzwischen hat sich die Lage in Mali und im Tschad verschlechtert. Vor den Kämpfen in der äthiopischen Provinz Tigray sind Zehntausende geflohen.
Die Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung hat nach anderthalbjähriger Arbeit vor Kurzem ihren Bericht vorgelegt. Darin heißt es, es sei abzusehen, „dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie die strukturellen Treiber von Flucht und irregulärer Migration weiter verstärken werden“.
Zur Erinnerung: Den größten Teil der Impfstoffe haben sich die Industriestaaten gesichert. So hängt alles mit allem zusammen.