Geflüchtet aus Russland

Ein neues Leben ohne Putin – „Uns wurde unsere Zukunft gestohlen“

Sind aus Russland geflüchtet und leben nun in der Türkei: Sergey, seine Frau und ihr gemeinsames Baby.

Sind aus Russland geflüchtet und leben nun in der Türkei: Sergey, seine Frau und ihr gemeinsames Baby.

Berlin/Belgrad/Fethiye. Berlin erinnert ihn ein bisschen an seine Heimat. „In manchen Teilen ist die Architektur der Häuser wie in Moskau“, sagt Igor. Außerdem mag er es, dass er hier auf den Straßen viele verschiedene Sprachen hört, auch russisch. Und dass er deswegen nicht so auffällt. „Ich fühle mich nicht wie ein Fremder hier.“

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Seinen Nachnamen, der der Redaktion bekannt ist, will der 33-jährige Russe dennoch nicht veröffentlicht wissen. Er ist besorgt, dass das Konsequenzen haben könnte, wenn er doch irgendwann wieder in seine Heimat einreisen will. In das Land, das er verlassen hat, nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin am 21. September die Teilmobilmachung ausrief.

Igor aus Russland lebt nun in Berlin – hier hat er über Silvester Innsbruck besucht.

Igor aus Russland lebt nun in Berlin – hier hat er über Silvester Innsbruck besucht.

Einen Tag nach seiner Hochzeit verließ Igor das Land

Nur einen Tag nach seiner Hochzeitsfeier ist Igor aus Russland ausgereist, erst nach Finnland, von da nach Bulgarien, in die Türkei und schließlich nach Deutschland. Hier hatte er zum 1. November einen neuen Job in einem Data-Science-Start-up gefunden. „Zur Hochzeitsparty ist nur noch die Hälfte unserer Freunde gekommen, weil viele schon das Land verlassen hatten“, sagt er. Eine traurige Erinnerung für den 33-Jährigen.

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Auch er habe schon seit Kriegsbeginn immer wieder mit seiner Frau darüber geredet, das Land zu verlassen, erzählt Igor. „Deswegen haben wir auch geheiratet, damit wir beide ein Visum bekommen.“ Doch dann ging durch die Mobilmachung alles schneller als gedacht. Seine frisch angetraute Frau sei erst rund zwei Wochen später nach Istanbul nachgekommen, von wo es für die beiden in die deutsche Hauptstadt ging. Dort leben sie aktuell noch in einer Airbnb-Wohnung, die Suche nach einer festen Bleibe läuft.

Hunderttausende Russen haben im Herbst das Land verlassen

Igor ist nicht der Einzige, der Russland vorerst hinter sich gelassen hat. Hunderttausende seiner Landsleute haben im vergangenen Herbst das Land verlassen, um sich der vom Kremlchef angeordneten Teilmobilmachung zu entziehen. In einigen ehemaligen Sowjetrepubliken entstanden gar kleinere russische Siedlungen. Eine zweite Fluchtwelle könnte folgen, sollten sich die Spekulationen bewahrheiten, dass Putin eine weitere Mobilisierung verkünden wird.

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Einfach haben es Geflüchtete aus Russland nicht immer. Während Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihre Heimat aus Angst um ihr Leben verlassen, oft zunächst mit offenen Armen empfangen werden, wird es Menschen aus Russland immer schwerer gemacht. Ihre Geldkarten funktionieren wegen der Sanktionen im Ausland oft nicht, Einschränkungen von Visa werden diskutiert und zum Teil umgesetzt. Sie kommen aus dem Land des Aggressors, das lässt man sie mancherorts spüren.

Aus dem Urlaub kehrte Sergey nicht nach Moskau zurück

Das weiß auch Sergey. Wie Igor hat er seine Heimat verlassen. Als er gerade mit seiner Frau und ihrem Neugeborenen im Urlaub auf den Malediven war, wurde die Teilmobilmachung verkündet. Der 30-Jährige kehrte nicht nach Moskau zurück, erzählt er. Mit Frau, Baby und Hund lebt er jetzt im türkischen Fethiye, rund zweieinhalb Autostunden von Antalya entfernt. Aus dem Homeoffice können sie beide ihren bisherigen Jobs weiter nachgehen, Sergey ist in einem großen russischen IT-Unternehmen angestellt, seine Frau ist Redakteurin und spezialisiert auf russisches Recht. Auch sie wollen ihre Nachnamen aus Sicherheitsgründen lieber nicht veröffentlicht wissen. Ob die Familie in der Türkei bleiben kann, das müssen die Behörden im Land jetzt entscheiden.

Auch der Hund musste mit: Sergey und seine Frau mit dem gemeinsamen Haustier.

Auch der Hund musste mit: Sergey und seine Frau mit dem gemeinsamen Haustier.

Die Türkei galt nach der Teilmobilmachung zunächst als beliebter Zufluchtsort für Russen. Bürger und Bürgerinnen der Russischen Föderation brauchen dort für die Einreise nur einen gültigen Pass, 90 Tage können sie ohne Visum bleiben. Eine Verlängerung bis zu einem Jahr war bislang ebenfalls problemlos möglich, wenn man eine Unterkunft und ein Einkommen nachweisen konnte. Doch mittlerweile hat das Land, das sich unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdogan als einziges Nato-Land den Sanktionen gegen Russland verwehrte, auf den Zustrom reagiert. Neue regeln erschweren das Bleiben nun zunehmend.

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Wird Sergey und seiner Familie das Visum nicht genehmigt, haben sie nur zehn Tage, um das Land zu verlassen, erzählt er in einem Videocall aus dem Apartment, das er und seine Frau für die kleine Familie gemietet haben. Tiefe Sorgen im Apartment, der Hafen von Fethiye mit dem in der Sonne türkis glitzernden Wasser im Hintergrund. Die Szenerie wirkt unwirklich. „Wir mussten unsere schöne Wohnung in Moskau zurücklassen, und wollten uns hier zum Ausgleich etwas Schönes suchen“, sagt er fast entschuldigend. Doch er ist mittlerweile nicht mehr optimistisch, dass sie bleiben können, und hat schon einen neuen Plan geschmiedet. Wieder ein neues Land. „Wir haben schon Tickets nach Serbien gebucht“, sagt er. Denn zuletzt seien seinen Informationen nach fast alle Aufenthaltsgenehmigungen für Russen in der Türkei abgelehnt worden.

Ich habe in den Zeitungen gelesen, dass die Türken nicht glücklich damit sind, dass so viele Russen herkommen. Die Mietpreise steigen deshalb.

Sergey, lebt jetzt in der Türkei

Seit Anfang November waren Sergey und seine Familie in der Türkei, vorher waren sie schon in Armenien, berichtet er. Die Menschen in Fethiye seien immer nett zu ihnen gewesen. „Aber ich habe in den Zeitungen gelesen, dass die Türken nicht glücklich damit sind, dass so viele Russen herkommen. Die Mietpreise steigen deshalb.“ Tatsächlich: Die Zuwanderung aus Russland macht sich auf dem Immobilienmarkt bemerkbar. In manchen Stadtteilen Antalyas haben sich die Mieten verfünffacht. Häuser und Wohnungen sind für viele Einheimische unerschwinglich geworden.

Persönlich habe ihm gegenüber diese Bedenken niemand im Ort geäußert, sagt Sergey. „Mich hat hier niemand für den Krieg verantwortlich gemacht.“ Warum auch, fragt er. „Wir sind selbst Gefangene unseres wahnsinnigen Präsidenten.“ So sehen das allerdings nicht alle. Nicht mal Sergeys eigene Eltern.

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Seine Mutter glaubt der Propaganda

Der Mann mit der Glatze, dem rotblonden Bart und der dunkel umrandeten Brille schaut jetzt ernst in seine Laptopkamera, macht beim Reden längere Pausen. „Es gehört auch zu meiner Verantwortung, dass ich meine Mutter mit der Propaganda allein gelassen habe“, sagt er. „Meine Mutter denkt, dass ich vor der Mobilisierung geflohen bin, dass ich ein Deserteur bin. Das tut weh. Sie denkt, dass meine Frau und ich unsere Eltern verlassen haben.“

Sergey erzählt, dass seine Mutter zu Anfang des Krieges ihren Job in einer internationalen Firma verloren habe, weil diese sich aus Russland zurückgezogen habe. „Aber sie gibt nicht unserer Regierung die Schuld, sondern der Firma.“ Er versuche, seine Mutter aufzuklären, aber es sei schwer. „Es macht mir Angst, wie gut diese Propaganda funktioniert.“ Gerade in der Generation seiner Eltern, die noch viel Fernsehen schaue.

Andrew und Alena leben jetzt in Serbien

Auch Andrew und Alena (Nachnamen der Redaktion bekannt) aus Moskau, die nun in der serbischen Hauptstadt Belgrad leben, deuten das an. Einen Tag nach der Teilmobilmachung verließ der 28-Jährige seine Heimat, seine Frau folgte ihm kurz darauf. „Meine Eltern unterstützen die Regierung mehr als ich. Aber sie respektieren unsere Entscheidung trotzdem“, sagt Andrew über die Flucht.

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Andrew und Alena aus Russland leben nun gemeinsam in Serbiens Hauptstadt Belgrad.

Andrew und Alena aus Russland leben nun gemeinsam in Serbiens Hauptstadt Belgrad.

Alle 30 Tage reisen Andrew und Alena gerade aus Serbien aus und dann wieder ein, erzählen sie. Man dürfe dort 30 Tage ohne Visum bleiben, aber das so oft man wolle. Ihre russischen Kreditkarten funktionierten nicht in dem Land. „Deshalb habe ich Bargeld mit dem Zug von Moskau nach Belgrad gebracht“, erzählt Alena. „Es war ein bisschen wie im Film ‚The Wolf of Wall Street‘, wo die Frau am ganzen Körper Geld festklebt und schmuggelt“, sagt sie. Im Nachhinein kann sie darüber lachen. Und mittlerweile hätten sie auch funktionierende Bankkarten. Beide hatten zudem das Glück, zunächst weiter remote in ihren bisherigen Jobs arbeiten zu können, Alena wechsele nun aber die Arbeit, erzählt sie.

Ob sie wieder zurück in ihre Heimat wollen, wenn der Krieg irgendwann endet? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es ist ein Abwägen zwischen Moral und Heimweh, Vernunft und Herz. Sie haben alle quasi vom einen auf den anderen Tag ihr Leben in Russland aufgegeben und sind in ein fremdes Land gezogen.

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Die Wohnung in Moskau bezahlen sie noch ab

Andrew und Alena haben zudem noch eine Wohnung im Moskau. „Wir haben sie vor einem Jahr gekauft und zahlen noch die Hypothek ab“, sagt Andrew. Bei Sergey und seiner Frau ist es ähnlich, sie haben ebenfalls eine Wohnung in Moskau, die sie gerade erst abbezahlt haben. „Ich war komplett glücklich im Februar, ich hatte meinen Traumjob, wir hatten unsere eigene Wohnung und erwarteten unser erstes Kind“, sagt Sergey über die Situation damals. „Und dann begann der Krieg.“ Das ist nicht mal ein Jahr her.

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Eine zeitnahe Rückkehr nach Russland kann er sich nicht vorstellen, sagt Sergey. Auch wenn er seine Familie vermisse, seine Freunde, sein Leben vor dem Krieg. „Ich vermisse nicht den Ort, ich vermisse die Zeit dort“, sagt er. „Aber ich bereue die Entscheidung nicht.“ Viele seiner Freunde seien heute auch nicht mehr in Russland. „Es geht nicht in erster Linie um die Flucht vor der Mobilmachung, es geht darum, dass ich nicht einverstanden bin mit dem, was in meinem Land passiert. Aber ich kann das in Russland nicht zeigen, weil es zu gefährlich ist. Ich kann nur still nicht einverstanden sein, und das will ich nicht.“ Er habe darüber nachgedacht zu protestieren, aber er habe eine Verantwortung für seine Frau und speziell für sein Baby.

Sogar wenn der Krieg zu Ende und Putin tot wäre: Unser ganzes politisches System ist vergiftet.

Sergey aus Russland

„Sogar wenn der Krieg zu Ende und Putin tot wäre: Unser ganzes politisches System ist vergiftet“, sagt Sergey. „Bis sich so etwas verändert, dauert es lange. Das passiert nicht dieses Jahr, nicht nächstes Jahr. Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Solange will er nicht über eine Rückkehr nachdenken, sondern mit seiner Familie nach vorne schauen, sich etwas Neues aufbauen. Und wenn es doch irgendwann so weit sei? „Dann bin ich der Erste, der am Flughafen steht“, sagt Sergey.

Auch Igor, der nun in Berlin lebt und arbeitet, sieht das ähnlich. Er hat nach eigenen Angaben ein Arbeitsvisum in Deutschland, das sechs Monate gültig ist und dann verlängert werden könne. „Ich habe nicht vor zurückzugehen“, sagt er. „Aber ich hoffe, dass es irgendwann wieder möglich sein wird, dass ich für Urlaube mit der Familie nach Russland kommen kann.“ Beruflich sieht er keine Zukunft mehr in seiner Heimat. „Ich möchte nicht bei einem Unternehmen arbeiten, das von der russischen Regierung kontrolliert wird.“

Firmen zogen sich aus Russland zurück

Sergey drückt es noch drastischer aus: „Uns wurde unsere Zukunft in Russland gestohlen.“ Er sagt nicht „von Putin“. Er weiß, dass es den flüchtenden Russinnen und Russen nicht so schlecht geht wie den Menschen in der Ukraine und denen, die von dort wegen des Krieges flüchten. „Wir haben nicht dieses ganze Leid gesehen, unser Zuhause wurde nicht zerbombt, aber wir haben trotzdem unsere Zukunft in unserer Heimat verloren.“

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