FDP-Chef Christian Lindner: auferstanden aus Ruinen
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FDP-Chef und Spitzenkandidat Christian Lindner in typischer Wahlkampfpose – hier am Mittwoch in Schwerin.
© Quelle: imago images/BildFunkMV
Münster. Es dauert geschlagene 25 Minuten, bis sich die Menschenmenge auflöst. In Ringen stehen junge Männer um Christian Lindner herum und begehren ein Selfie. Anfangs ist der FDP-Vorsitzende gar nicht mehr zu sehen, so viele junge Männer sind es. Doch wenn sie ihr Selfie bekommen haben, und sie bekommen alle eins, ziehen die Lindner-Fans allein oder in Gruppen davon. Schließlich bleibt der 42-Jährige mit Gefolge und ein paar unverdrossen Neugierigen übrig. Es ist, als habe man eine Zwiebel gehäutet.
Wie die Spitzenkandidaten aller anderen Parteien ist Lindner in der wahlkämpfenden Republik unterwegs. Am Vortag war er im Taunus, dann Übernachtung in der Nähe von Köln, schließlich steht an diesem Freitag nach Münster noch Bad Salzuflen auf dem Programm. Am Rande der Bühne mitten im Herzen der Westfalen-Metropole sagt der ehemalige Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr: „Für die FDP ist die Lage gut; sie macht keine Fehler.“ Die Moderatorin betont kurz darauf, die FDP sei „keine One-Man-Show“. Die nächsten zwei Stunden sind es doch.
Zwar sprechen eingangs ein paar FDP-Kandidaten aus der näheren und ferneren Umgebung. Der prominenteste ist der Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Er sagt: „Ich bin dafür, dass Christian Lindner der nächste Bundesfinanzminister wird.“ Da hat der Frontmann längst das Jackett abgelegt, um im weißen Hemd die Bühne zu erklimmen. Und es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass das überwiegend jüngere und männliche Publikum von Münster 54 Minuten an seinen Lippen hängt.
Ton gefunden
„Wir haben niemals die Gefährlichkeit von Corona geleugnet“, sagt Lindner zu Beginn. „Aber auch von der Bekämpfung können Risiken ausgehen.“ Der Staat müsse begründen, „warum er in unsere Freiheit eingreift“. Er appelliert: „Lassen Sie sich bitte impfen.“
Das Mikro in der linken Hand und mit der rechten Hand meist gestikulierend geht er immer wieder zwei Schritte nach links und zwei nach rechts. Lindner spricht über Bildung, den demografischen Wandel, die Rente und sein Faible für technische Problemlösungen.
Der rhetorische Höhepunkt ist erreicht, als er referiert, dass Grünen-Chef Robert Habeck das Wort „Schulden“ auf das Wort „Schuld“ zurückgeführt und deshalb die Vokabel Kredite empfohlen habe. Da setzt Lindner zur Attacke an. „Als Begriffsklempner ist mir Robert Habeck weit überlegen“, sagt er über den Konkurrenten ums Amt des Finanzministers. „Aber wer dauerhaft rote Zahlen schreibt, wird nie auf einen grünen Zweig kommen.“
Der Applaus ist nach knapp einer Stunde groß, und die Zustimmung ist einhellig. Das sagt in einer Stadt, in der die FDP bei der letzten Kommunalwahl über 4,6 Prozent nicht hinauskam, einiges aus.
Wer dauerhaft rote Zahlen schreibt, wird nie auf einen grünen Zweig kommen.
Christian Lindner
Nachdem Lindner am 19. November 2017 mitten in der Nacht und bei funzeligem Licht die Jamaika-Sondierungen mit CDU, CSU und Grünen mit dem legendären Satz abgebrochen hat „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, da wird er zum Paria des Regierungsviertels. Kaum eine kritische Rede des liberalen Fraktionschefs geht vorüber, ohne dass ein Zwischenrufer zurückgibt, er hätte es ja besser machen können. Überdies findet die Partei erkennbar keine Haltung zum Klimathema. Und dann ist da noch das, was ein Spitzenliberaler unverblümt die „Thüringen-Scheiße“ nennt.
Parteiencheck vor der Bundestagswahl: FDP
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© Quelle: RND
Als der thüringische FDP-Chef Thomas Kemmerich im Landtag für das Amt des Ministerpräidenten kandidiert, findet das zunächst Lindners Unterstützung. Als Kemmerich mit den Stimmen aus CDU und AfD ins Amt kommt, sagt Lindner, dafür könne man ja nicht seine Partei verantwortlich machen. Erst nach Protesten innerhalb und außerhalb der FDP ändert er den Kurs. Lindner fährt nach Erfurt und zwingt Kemmerich zur Aufgabe. Im Parteivorstand stellt er die Vertrauensfrage – mit Erfolg. So kommt das liberale Gefährt mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Der Ruf der FDP ist schlecht wie lange nicht mehr, die Umfragen sind es ebenfalls. Verschärfend kommt hinzu, dass Lindner in den ersten Monaten der Corona-Pandemie einen bisweilen staatsverachtenden Gestus einnimmt. Nicht das Virus erscheint als Bedrohung, sondern der Kampf der Institutionen dagegen. Die Freie Demokratische Partei wirkt wie eine Partei, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das ist vorbei.
Ein Grund ist die Schwäche der Union. Wer mit CDU und CSU fremdelt, der sieht sich nach Alternativen im bürgerlichen Lager um. Lindner tut zwar bis in die letzten Wochen hinein alles, um deren kriselnden Kanzlerkandidaten Armin Laschet zu stützen. Schließlich begann der Wiederaufstieg der FDP nach dem Scheitern bei der Bundestagswahl 2013 in Nordrhein-Westfalen, wo Lindner und Laschet gemeinsam eine Koalition schmiedeten.
Nur geht die Liebe nicht so weit, dass die Partei der Union freiwillig Wähler überlassen würde. Im Gegenteil, sie wirbt anders als früher neuerdings um Erst- und Zweitstimme. In Münster nennt Lindner CDU und CSU unfähig.
Ein weiterer Grund für das Hoch ist, dass die FDP sich verändert hat. Sie hat Irritationen, womöglich nach rechts außen hinein offen zu sein, beseitigt. Ihre Reden sind – vor allem auf dem Corona-Feld – weniger schneidend geworden. Das heißt: Lindners Reden. In die Kritik streut er jetzt immer mal wieder Alternativvorschläge ein. „Wir haben unseren Ton gefunden“, sagt einer aus der Führung.
Überhaupt arbeitet der Mann, der für viele Linksliberale unverändert ein rotes Tuch ist, an einer Korrektur seiner selbst oder – je nach Sichtweise – an einer Imagekorrektur. Lindner sei härter geworden, sagt ein liberaler Spitzenmann – härter im Aushalten von Kritik. So konnte es Parteifreunden und Journalisten früher passieren, dass sie eine Beschwerde-SMS auf ihr Handy bekamen, wenn sie etwas nicht Genehmes gesagt oder geschrieben hatten.
Mittlerweile wirkt Lindner sanfter. In der Rede von Münster kommt seine Oma ebenso vor wie seine Eltern. Auch macht sich Lindner ausdauernd für den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny stark, der in einem russischen Straflager sitzt. Als er kürzlich nach der verunglückten ironischen Bemerkung des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gefragt wird, wonach die impfbereiten Deutschen „Versuchskaninchen“ gewesen seien, lässt Lindner die Gelegenheit zur Polemik generös verstreichen. Sogar die Kanzlerin ist da weniger zimperlich.
Wir wollen, dass Deutschland wieder aus der Mitte regiert wird. Karrieren sind nicht so wichtig wie Überzeugungen.
Christian Lindner
Fragt man Lindner selbst, was nicht mehr ist wie früher, dann verweist er auf die Partei. Die sei nun breiter aufgestellt, sodass er nicht ständig im Vordergrund stehen müsse. Generalsekretärin Linda Teuteberg wurde durch Volker Wissing abgelöst; der hat mehr Erfahrung und genießt Lindners Vertrauen. Auch werden profilierte Vertreter der FDP stärker sichtbar: Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann, Vizeparteichef Johannes Vogel, Alexander Graf Lambsdorff für Außen-, Marie-Agnes Strack-Zimmermann für Verteidigungs- sowie Konstantin Kuhle und Benjamin Strasser für Innenpolitik – unter anderen. Häuptling Lindner muss nicht mehr alle Pfeile auf sich ziehen.
Grundsätzlich ist es so, dass die junge Kulisse beim Auftritt in Münster keineswegs täuscht. Bei den Jungwählern ist die FDP neben den Grünen ausweislich der Umfragen führend. Die Melange aus Freiheitspathos und Technikbegeisterung zieht. Das verheißt den Liberalen, die nun zum zweiten Mal hintereinander bei einer Bundestagswahl zweistellig abschließen dürften, eine positive Perspektive über den Wahltag hinaus.
Dabei wirkt Lindners Nein zu Jamaika im Jahr 2017 auf Mitglieder und Anhänger im Jahr 2021 anziehend. Wenn die FDP-Spitze nach dem Urnengang die Wahl zwischen Jamaika mit Union und Grünen und der Ampel mit SPD und Grünen hat, dann wird sie mit Verweis auf die eigene Standfestigkeit für Jamaika plädieren und die Grünen gemeinsam mit CDU und CSU in den Schwitzkasten nehmen.
Die Jungen von Münster werden das verstehen. Dort tritt nach der Kundgebung ein Teenager im lindgrünen T-Shirt auf Lindner zu und sagt: „Behalten Sie Ihre ehrliche Haut bei. Dann bleibt die Jugend Ihnen treu.“ Der Redner sagt: „Wir wollen, dass Deutschland wieder aus der Mitte regiert wird. Karrieren sind nicht so wichtig wie Überzeugungen.“
Modernes Image
Gewiss ist Lindners rhetorisches Manöver aus dem Sommer gescheitert. Da sprach er davon, dass der Auftrag zur Regierungsbildung an die Laschet-Union gehen werde. Gleichwohl kann man sicher sein, dass die FDP den Mann aus Aachen nach dem Wahltag stützen wird – soweit das möglich und dessen Ergebnis nicht zu desaströs ist.
In der Traube der Jungen fällt der immer noch vergleichsweise jung wirkende Lindner übrigens weniger auf, als – sagen wir – Laschet auffallen würde. Er hat das Jungenhafte seiner Generalsekretärszeit verloren, erscheint aber unverändert modern und erreicht in den digitalen Netzwerken eine Reichweite wie wenige andere. Bei den Selfies sagt Lindner seinen Fans sogar gelegentlich, welchen Button sie jetzt drücken müssen.
Was denn mehr Mühe mache, 54 Minuten reden oder 25 Minuten Fotomodell sein, will am Ende in Münster ein Journalist wissen. „Weder noch“, antwortet Christian Lindner gelassen. Dann isst er in der Nähe lustvoll eine Currywurst, die der Vegetarier Robert Habeck niemals essen würde.