Terrorismusexperte Neumann zur Lage in Kabul: Der IS will Bürgerkrieg in Afghanistan
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Terrorismusexperte Peter R. Neumann warnt vor weiteren Anschlägen in Afghanistan.
© Quelle: Privat/imago images/SNA/Montage/RND/Thorausch
Kabul/London. Über den afghanischen IS-Ableger und die Sicherheit in Kabul haben wir mit Professor Peter R. Neumann gesprochen, Experte für islamistischen Terror und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College.
Herr Neumann, bereits kurz nach der ersten Explosion hat sich der sogenannte „Islamische Staat“ zu den Anschlägen in Kabul bekannt. Wer steckt hinter dem afghanischen IS-Ableger?
Die Gruppe nennt sich ISIS-K und besteht aus IS-Anhängern, denen die Taliban zu moderat sind. Diese extremen Talibankämpfer haben sich vor fünf bis sechs Jahren von den Taliban abgespaltet und dem IS angeschlossen haben. Laut den USA haben die ISIS-K zwischen 2.500 und 3.500 Unterstützer.
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Wie konnte es zu diesem Anschlag in Kabul kommen?
Der Abzug des Westens hat nicht nur dazu geführt, dass die Taliban stärker geworden sind und die Macht in Afghanistan übernehmen konnten. Auch die internationale Terrorbekämpfung von Gruppen wie dem IS wurde damit beendet. Der IS findet jetzt ein Machtvakuum vor und versucht, sich auszubreiten. Bisher waren die Taliban nicht in der Lage, die Terrorismusbekämpfung des Westens fortzusetzen.
Galt der Anschlag denn auch dem Westen?
Die kurzfristige Absicht ist, den Abzug der westlichen Truppen zu stören und westliche Ziele rund um den Kabuler Flughafen zu treffen. Der Angriff auf die USA war schließlich schon immer eines der Hauptziele globaler Dschihadisten. Der Anschlag hat lehrbuchartig gezeigt, wie man mit wenigen Mitteln eine globale Krise auslösen kann. Langfristige Absicht des IS ist, eine chaotische, bürgerkriegsähnliche Situation in Afghanistan zu schaffen.
„Der Anschlag ist eine Demütigung für Amerika auf internationaler Ebene.“
Professor Peter R. Neumann,
Experte für islamistischen Terror
Eine Situation ähnlich wie in Libyen, wo Chaos und Anarchie herrschen und wo verschiedene Milizen miteinander kämpfen. Das sind Situationen, in denen der IS erfolgreich ist, weil sich dort Menschen nach einer Ordnungsmacht zurücksehnen, auch wenn es eine Schreckensmacht ist. Eine solche Situation will der IS durch eigene Anschläge provozieren.
Welches Signal ist der Anschlag für Joe Biden?
Der Anschlag ist eine Demütigung für Amerika auf internationaler Ebene. Dieser Tag mit mehr als ein Dutzend toten US-Soldaten wird Präsident Biden bis zu seinem letzten Amtstag verfolgen. Als in Bengasi 2012 drei Soldaten und der Botschafter gestorben sind, hat dies Hillary Clinton jahrelang beschäftigt. Jetzt gibt es deutlich mehr Tote unter katastrophalsten und mitverschuldeten Umständen. Ich bin mir sicher, dass dies ganz erhebliche Probleme für Biden nach sich zieht.
Wie sicher ist Kabul heute noch?
Kabul ist ganz und gar nicht sicher. Wenn die Anschläge eines bewiesen haben, dann dass die Taliban nicht in der Lage sind für Recht und Ordnung zu sorgen. Dass es in der Nacht zu weiteren Explosionen kam, zeigt uns, dass die Situation in Kabul weiterhin äußerst angespannt ist.
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Das heißt, Sie gehen von weiteren Anschlägen aus?
Es wird noch weitere Anschläge geben, aber nicht nur gegen den Westen, sondern gegen die Taliban. Der IS hat einen Alleinvertretungsanspruch und duldet keine Gruppen neben sich. Erst recht keine Gruppen, die eine ähnliche Ideologie verfolgen. Das Ziel des IS ist nicht nur der Abzug westlicher Truppen, sondern die Herstellung der eigenen Herrschaft. Da stören die westlichen Truppen genauso wie die Taliban.