Europawahl: Weg vom Ulk-Image - dieses Mal meint Martin Sonneborn es ernst

Zwei Humanisten und Humoristen: Martin Sonneborn und Nico Semsrott.

Zwei Humanisten und Humoristen: Martin Sonneborn und Nico Semsrott.

Berlin. Martin Sonneborn ist müde. Diesen Zustand teilt der Satiriker und Europaabgeordnete sehr wahrscheinlich mit allen anderen Spitzenkandidaten für die Europawahl. Wochenlang ist der 53-Jährige über deutsche Marktplätze getourt, nun sitzt er im Fond eines Mercedes auf der Autobahn von Berlin nach Frankfurt (Oder).

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Sonneborn will für seine Satirepartei „Die Partei“ weitere fünf Jahre ins EU-Parlament. Wie kein anderer Kandidat muss er sich die Frage gefallen lassen: Warum eigentlich?

2014 war der Einzug eine Überraschung, diesmal ist er sicher

Vor fünf Jahren erreichte die "Partei" mit 0,6 Prozent überraschend einen Sitz in Brüssel. Für die Europawahl gilt keine Sperrklausel, 184.709 Stimmen reichten aus, um Sonneborn nach Brüssel zu schicken. Dort begann er als Krawalltourist, der versuchte, die Absurditäten des Brüsseler Apparats bloßzustellen – aber sich zunächst vor allem an der Körperfülle des CDU-Urgesteins Elmar Brok abarbeitete. Schon bald aber begann Sonneborn, sich in Brüssel zu verändern. In Deutschland haben das noch nicht viele mitbekommen.

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Martin Sonneborns europäischer Moment kam schon bald nach seinem Einzug in Brüssel. Er hat viel mit Sven Giegold zu tun, dem jetzigen Spitzenkandidaten der Grünen. Mit Giegold wettete der „Partei“-Politiker nach seinem Einzug ins Parlament, ob progressive Sacharbeit im EU-Parlament möglich sei oder nicht.

Sonneborn wettete dagegen und sagt jetzt: „Giegold hat die Wette gewonnen.“ Giegold will es auch gewesen sein, der Sonneborn eines Abends zur Seite nahm und sagte: Ich war immer Fan der „Titanic“ und der „Partei“, aber das hier ist unter deinem Niveau.

Jetzt wird es ernst

Sonneborn selbst erzählt es auf der Autofahrt an die deutsche Ostgrenze so: "Ich hatte keine Ahnung, was ich in Brüssel machen kann. Ich war ein steuerfinanzierter Spaßvogel auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe. Die ersten fünf Jahre Brüssel waren für mich das Reingehen in etwas völlig Unbekanntes. In den zweiten fünf Jahren werden wir andere Positionen erkunden."

Im Wahlkampf wurde bisher am meisten darüber berichtet, dass die „Partei“ auf den hinteren Kandidaten Mitglieder aufstellte, die nur nach ihren Nachnamen ausgewählt wurden: Krieg, Bombe, Göbbels, Bormann, Eichmann.

Was bleibt der „Partei“ auch übrig?

Das wurde als geschmackloser Gag kritisiert, und so sieht es auch aus – bis man dann Dietrich Eichmann am Telefon hat, ein Komponist aus dem Fläming, der begeistert davon ist, mit seinem NS-belasteten Namen auf satirische Weise gegen Rechtsruck und Aufrüstung stehen zu können. Mit Adolf Eichmann, das sagt er als erstes, ist er nicht verwandt. Und dann sagt Eichmann, "Partei"-Mitglied der fast ersten Stunde, noch einen bemerkenswerten Satz: "Wenn alle anderen Parteien Realsatire betreiben, was bleibt uns noch übrig? Für mich ist die "Partei" die einzige ernsthafte Partei."

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Ernsthaft, jetzt? Die „Partei“ hat als Wahlwerbespot ein Video von „Sea-Watch“ ausgewählt, das um Spenden für Rettungsschiffe im Mittelmeer wirbt. Im Bundestagswahlkampf 2017 zeigte der Kreisverband Dresden den ertrunkenen Jungen Alan Kurdi und den abgewandelten CDU-Slogan „Ein Strand, an dem wir gut und gerne liegen.“ Ist aus dem Brüsseler Krawalltouristen ein linker Moralist geworden? Kurz schüttelt sich Sonneborn und verbessert dann: „Nein, ein Humanist.“

37 000 Parteimitglieder – das ist gleichauf mit der AfD

Und wozu braucht es dann noch die Satire, wozu die uniformen Polyester-Jacketts und roten Krawatten, die inzwischen 37.000 „Partei“-Mitglieder bundesweit tragen? 37.000, das ist gleichauf mit der AfD.

„Ohne Satire hätten wir nicht die Öffentlichkeit, die wir haben“, sagt Sonneborn ganz sachlich. Ganz Europa diskutiert über Steuergerechtigkeit für Großkonzerne. Er hält eine Ein-Minuten-Rede im Parlament und schlägt den Iren den Austritt vor, weil sie die Steuerschulden von Apple nicht einfordern wollen. „Take the money and run“ – den Satz haben bestimmt weit mehr Menschen gehört als Nicola Beers Position zur Steuerharmonisierung.

Ein eigener Balken in den Umfragen

Die „Partei“ wird bei den Umfragen zur Europawahl mit einem eigenen Balken ausgewiesen – meistens liegt sie bei zwei Prozent, in Berlin sogar auch mal bei 4 Prozent. In der Hauptstadt wäre damit sogar der Einzug ins Abgeordnetenhaus in greifbarer Nähe, wenn das Landesparlament neu gewählt würde. Dass die „Partei“ eines Tages eine Fünf-Prozent-Hürde überspringen wird, hält keiner ihrer Vertreter mehr für absurd.

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Wer einen eigenen Balken bekommt, ist eine ernstzunehmende Größe in der Politik. Ist er deswegen auch ernst? Während sich auf der Gegenspur die Lastwagen stauen, hält Sonneborn seinen neuen, nachdenklichen Kurs bis kurz vor Frankfurt durch. All die alten Slogans der „Partei“ wirft er über Bord: „Inhalte überwinden“ – das könnten die anderen besser. „Ja zu Europa, Nein zu Europa“ – wer verträte das besser als die Briten? Und das nihilistische Abstimmungsverhalten, abwechselnd Ja und Nein zu drücken, egal was gerade dran ist? „Das werden wir nicht mehr machen, das passt nicht mehr.“

Nico Semsrott, der einzig wahre Hoodie-Träger

Ja, wir. Denn wer einen eigenen Balken in den Umfragen bekommt, zieht auch nicht nur mit einem Abgeordneten ein, der dann bei den Fraktionslosen als "Abschaum des Parlaments" sitzt. Neben Sonneborn fast sicher in Brüssel ist Nico Semsrott, bekannt aus der "heute-show" und öffentlich stets mit schwarzem Kapuzenpullover unterwegs. Semsrott will jeden Monat ein Video über Brüssel drehen, aber keine nihilistischen wie Sonneborn in seinen ersten Monaten, sondern ernsthaft satirische. Vielleicht tritt er auch der grünen Fraktion bei und Sonneborn bleibt alleine beim "Abschaum", an den er sich gewöhnt hat. Die beiden lassen es offen.

Es klingt wie bei Chaplin

Semsrott jedenfalls hält beim Wahlkampfauftakt in der Berliner Volksbühne eine Rede, deren Kern bemerkenswert ist. Sie ist vielleicht gut von Charlie Chaplin geklaut, aber zeigt auf jeden Fall den neuen Weg der "Partei".

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„In einer schöneren Parallelwelt bräuchte es keine Partei wie unsere. Wir hätten Politiker, die sich mit etwas auskennen, die sich mit den klügsten Menschen der Gesellschaft umgeben, die sich von besseren Argumenten überzeugen ließen. Wir hätten Politiker, die uns begeistern, Geschichten erzählen, Hoffnung machen. Stattdessen haben wir Christian Lindner. Wenn Leute wie Christian Lindner Politiker sind, was kann man als Satiriker noch obendrauf legen?“

Wann wäre die „Partei“ überflüssig?

Ja, was denn? Und wann würde die „Partei“ überflüssig, Herr Sonneborn MdEP? „Wenn es eine funktionierende Sozialdemokratie gäbe, die sich für die Leute einsetzt, die keine Vertretung mehr haben.“ So, noch ernsthafter wird es in diesem Europawahlkampf nicht.

Herr Sonneborn MdEP, noch eine Videobotschaft zur Europawahl. Der müde Spitzenkandidat räuspert sich kurz und sagt: „Europa, ein gutes Konstrukt, aber besetzt von den falschen Leuten. Zu konservativ. Deswegen lasse ich eine Europawahl veranstalten am 26. Mai. Bitte wählen Sie Linke, Grüne und Sozialdemokraten, dort wo es die SPD noch gibt.“ Die „Partei“ lässt er aus. Vielleicht reichen ja auch zwei von der Sorte in Brüssel.

Brandts Kniefall und Stauffenbergs Aktentasche

In Frankfurt warten junge Leute in Polyester-Anzügen mit roten Krawatten auf ihn. Sonneborn soll die Oder überqueren, denn auf der polnischen Seite der Stadt, in Slubice, gibt es eine Absurdität, die der "Partei" entgegenkommt: ein Denkmal für Wikipedia. Er legt einen Kranz nieder in Trauer um das "freie Internet" und ahmt Willy Brandts Kniefall in Warschau nach. Diese Ausflüge in die Geschichte gehören zum nerdigen Markenkern der "Partei". Bei der Buchmesse in Frankfurt im Oktober 2018 marschierte Sonneborn mit NS-Uniform und Aktentasche als Attentäter Stauffenberg auf – und wollte in die Lesung des rechtsradikalen AfD-Politikers Björn Höcke.

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Erfolgreich erreichtes Ziel der Aktion: Die Kameras richteten sich auf Sonneborn, nicht auf Höcke. Die Kostüm-Uniform wird übrigens in Kürze im Haus der Geschichte Baden-Württemberg ausgestellt – als aktuelles Beispiel einer Auseinandersetzung mit Stauffenberg. Sonneborns Polit-Satire ist also offiziell reif fürs Museum.

Seine politische Karriere aber geht weiter – und die der „Partei“ auch. „Bisher wurden wir aus Verzweiflung gewählt, jetzt wählen uns die Leute aus Überzeugung“, sagt Sonneborn. Und er denkt schon darüber nach, mit Mitstreitern aus Ungarn und Tschechien in Brüssel die „Satirische Internationale“ zu gründen. Mit Europa ist Martin Sonneborn noch lange nicht fertig.

Lesen Sie auch: Welche Splitterparteien schaffen es ins EU-Parlament?

Von Jan Sternberg/RND

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