EU-Wettbewerbskommissarin Vestager: “Wir müssen wachsam bleiben”

“Der Staat schreibt uns plötzlich vor, was wir zu tun und zu lassen haben, wohin wir reisen dürfen. Das hat es noch nie gegeben”: Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission.

“Der Staat schreibt uns plötzlich vor, was wir zu tun und zu lassen haben, wohin wir reisen dürfen. Das hat es noch nie gegeben”: Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission.

Berlin. Frau Vizepräsidentin, sind Sie in Sorge um die USA?

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Was mich beunruhigt, ist die Vielzahl immer wieder neuer Quellen von Ungewissheit. Die Präsidentschaftswahl und der Wahlkampf, die Rolle der sozialen Netzwerke, die Erkrankung des Präsidenten – diese über allem schwebende Ungewissheit erschwert es uns, globale Herausforderungen gemeinsam anzugehen.

Präsident Trump hat sie mal “die Steuer-Lady” genannt. Ein Kompliment oder eine Beleidigung?

Ich habe die Fakten gecheckt: Ich habe mit Steuern zu tun, und bin eine Frau. Insofern ist der Ausdruck korrekt. Ich deute ihn weder als Kompliment noch als Beleidigung.

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Wird Europa zur Front im US-chinesischen Handelskrieg?

Nein. Wir nehmen eine eigenständige Position ein – sowohl gegenüber China als auch gegenüber den USA. Mit den USA haben wir kürzlich ein kleines Handelsabkommen abgeschlossen. Gegenüber China arbeiten wir auf ein Investitionsabkommen hin, wobei fraglich ist, ob es bald zu einem Abschluss kommt. China ist Partner im Klimaschutz und wirtschaftlicher Wettbewerber. Es ist aber auch ein Systemrivale, weil es keine Demokratie ist. Die Demokratie der USA mag sich von unserer unterscheiden, begründet aber auch unsere Nähe zueinander.

Kaufen chinesische Investoren im Zuge der Corona-Krise im großen Stil europäische Unternehmen auf?

Das sehe ich bisher nicht. Was aber nicht bedeutet, dass derartige Aufkäufe nicht noch folgen könnten. Die EU-Staaten haben ihr Budget an staatlichen Beihilfen für die Wirtschaft und angeschlagene Firmen auf drei Billionen Euro erweitert, ein Teil des Geldes fließt bereits ab. Noch sind europäische Firmen also nicht in prekärer Lage. Aber wir müssen wachsam bleiben.

Was halten Sie von Plänen aus dem Europäischen Parlament, chinesischen Staatsfirmen die Übernahme europäischer Unternehmen zu verbieten?

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Europäische und nationale Behörden müssen genau hinschauen. Es gibt rund 130.000 staatliche Unternehmen in China, und sie sind nicht alle gleich. Bei einem Interessenten mögen wettbewerbsrechtliche Zweifel aufkommen, beim anderen Sicherheitsbedenken. Statt eines pauschalen Verbots plädiere ich dafür, dass jeder EU-Mitgliedsstaat imstande ist, das Geschäftsmodell fraglicher Firmen zu durchleuchten.

Deutschland, aber auch Frankreich setzen sich gegenüber der EU-Kommission für vereinfachte Großfusionen von Industrieunternehmen ein, um mit Großkonzernen aus den USA und China mithalten zu können. Tun sie gut daran?

Ja und nein. Wenn durch Zusammenschlüsse Großkonzerne entstehen, ist das an sich kein Problem. Die Frage ist, ob diese Großkonzerne in ihrem europäischen Heimatmarkt noch ausreichend herausgefordert werden, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Gerade jetzt, da wir so viel öffentliches Geld in die Hand nehmen, müssen wir darauf achten, dass mit diesem Geld Effizienz und Innovationskraft gefördert werden.

Die EU hat die kommenden zehn Jahre zur “digitalen Dekade” erklärt und macht dafür acht Milliarden Euro locker. Wie stellen Sie sich diese schöne, neue Digitalwelt vor?

Das Wichtigste in dieser Welt ist Vertrauen. Vertrauen darin, dass die Digitalisierung uns Menschen und unserer Demokratie nützt. Ob in der Telemedizin oder in der Jobsuche: Der Algorithmus hat sich in den vorurteilsfreien Dienst der Bürgerinnen und Bürger zu stellen. Sie dürfen sich nicht fremdgesteuert fühlen.

Margrethe Vestager (links), Vizepräsidentin der EU-Kommission, im Gespräch mit den RND-Korrespondenten Damir Fras und Marina Kormbaki.

Margrethe Vestager (links), Vizepräsidentin der EU-Kommission, im Gespräch mit den RND-Korrespondenten Damir Fras und Marina Kormbaki.

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Was stimmt Sie so hoffnungsfroh, dass die EU auf den fahrenden Zug der Digitalisierung aufspringen kann?

Im ersten Kapitel der Digitalisierung, in dem Geschäftsmodelle zwischen Unternehmen und Konsumenten entwickelt wurden, standen wir außen vor. Es gibt kein europäisches Facebook oder Google. Das nächste Kapitel aber handelt von den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen – das ist der Moment Europas. Wir sind stark industrialisiert, wir haben eine starke Ingenieurskultur, wir bringen die Dinge zum Laufen. Mit der richtigen gesetzgeberischen Begleitung können wir einen wahren europäischen Schatz heben.

Unlängst haben Sie vor dem EU-Gericht eine Niederlage erlitten. Die Richter kassierten ihre Forderung an den US-Techgiganten Apple, 13 Milliarden Euro an Steuern in Irland nachzuzahlen. Was machen Sie jetzt?

Wir haben Berufung eingelegt bei der nächsten Instanz, dem Europäischen Gerichtshof. Wir glauben, dass das EU-Gericht einige rechtliche Fehler gemacht hat. Gut an dem Urteil ist, dass das Gericht das Recht der EU-Kommission nicht bestreitet, auch im Falle von Steuerstreitigkeiten die Vorschriften für staatliche Beihilfen anzuwenden. Wenn Mitgliedstaaten bestimmten multinationalen Unternehmen Steuervorteile gewähren, die ihren Konkurrenten nicht zur Verfügung stehen, beeinträchtigt das den fairen Wettbewerb in der EU. Zudem haben Mitgliedsstaaten wie Irland, Belgien, Luxemburg, Zypern und Malta ihr Steuerrecht auf unseren Druck hin bereits verändert, sodass solche Dinge nicht mehr geschehen sollten.

Also braucht es kein gemeinsames europäisches Steuerrecht?

Oh doch. Aber ich kann nur die Regeln über staatliche Beihilfen anwenden. Damit ist nur ein Teil des Problems abgedeckt. Wir brauchen auf jeden Fall neue EU-Regeln, um Steuergerechtigkeit herzustellen. Wir können doch nicht von Hunderttausenden Unternehmen verlangen, dass sie brav ihre Steuern zahlen und hinnehmen, dass manche Unternehmen gar keine Steuern zahlen.

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Wir spüren, dass der Staat versucht, die Folgen der Krise zu dämpfen. Aber nicht nur auf nationaler Ebene. Viele merken, wie wichtig Zusammenarbeit innerhalb der EU ist.

Margrethe Vestager, EU-Wettbewerbskommissarin

Sie haben vor Kurzem angekündigt, dass die EU wegen der Corona-Krise die Beihilferegeln länger lockern will als geplant. Sie wollten eigentlich nur bis zum Jahresende ein Auge zudrücken, sprechen jetzt aber von Ende Juni 2021. Erwarten Sie, dass das Schlimmste dann vorbei ist?

Wir beraten darüber mit den Mitgliedsstaaten. Wir müssen erst noch ein Gefühl dafür bekommen, was genau gebraucht wird. Da müssen wir kreativ sein und uns neue Methoden einfallen lassen. Vielleicht brauchen einzelne Unternehmen mehr Zeit, um die Staatsgelder zurückzuzahlen? Unsere Hoffnung ist, dass wir Arbeitsplätze sichern können. Und wir müssen bei der Krisenbewältigung auf annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen achten. Insgesamt bringen die EU-Staaten etwa drei Billionen Euro für Staatsbeihilfen auf. Fast 50 Prozent der Gesamtsumme in der EU stellt Deutschland seiner Wirtschaft bereit. Italien und Frankreich kommen auf je 15 Prozent. Und der Rest verteilt sich auf 24 Mitgliedsstaaten.

Erleben wir in dieser Krise einen Paradigmenwechsel? Wird der Staat wichtiger?

Ich glaube schon. Der Staat schreibt uns plötzlich vor, was wir zu tun und zu lassen haben, wohin wir reisen dürfen. Das hat es noch nie gegeben. Ich kann mir heute nicht einfach ein Flugticket kaufen, um meinen Mann in Kopenhagen zu sehen. Ich könnte es natürlich, aber dann müsste ich nach meiner Rückkehr in Brüssel in Quarantäne und könnte nicht mehr arbeiten. Jeder kennt solche Geschichten. Wir haben das Gefühl, dass uns der Staat etwas aufzwingt – aus nachvollziehbaren Gründen, aber trotzdem.

Kehrt der Nationalstaat zurück?

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Wir spüren, dass der Staat versucht, die Folgen der Krise zu dämpfen. Aber nicht nur auf nationaler Ebene. Viele merken, wie wichtig Zusammenarbeit innerhalb der EU ist. Ein gutes Beispiel ist das gemeinsame europäische Batterieprojekt in der EU. Inzwischen beteiligen sich daran sieben Mitgliedsstaaten und etwa 40 Unternehmen. Oder denken Sie an die Geschwindigkeit, mit der sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf den Corona-Wiederaufbaufonds geeinigt haben. Auch hat sich das Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren verändert. Der Corona-Aufbaufonds umfasst zwar 750 Milliarden Euro; hinzu kommen gewaltige Hilfsprogramme auf den nationalen Ebenen der Mitgliedsstaaten. Dennoch wissen alle: Ohne private Investitionen werden wir die Klimaneutralität und die Digitalisierung nicht schaffen.

Teilen wirklich alle Regierungen in der EU diese Einschätzung?

Ich denke schon. Jeder weiß, dass es schnell gehen muss. Zumindest in den Mitgliedsstaaten, die am meisten unter Corona leiden, sollte das Geld aus dem Corona-Hilfspaket zum 1. Januar 2021 zur Verfügung stehen.

Wird es dann auch einen Handelsvertrag zwischen der EU und Großbritannien geben?

Wenn ich das wüsste, dann könnte ich eine Beratung aufmachen und ein Vermögen verdienen. Aber ich weiß es nicht.

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Die Dänin Margrethe Vestager (52) gehört der linksliberalen Partei Radikale Venstre an und ist seit 2014 EU-Wettbewerbskommissarin. Seit knapp einem Jahr ist Vestager zudem Vizepräsidentin und Kommissarin für Digitales. Die Tochter eines Pastoren-Ehepaares studierte Wirtschaftswissenschaften. Ehe Vestager nach Brüssel wechselte, war sie Wirtschaftsministerin, Innenministerin und stellvertretende Regierungschefin in Kopenhagen. Sie ist verheiratet und hat drei Töchter.


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