EU-Krisenkommissar: „Würde mir mehr Europa wünschen – aber die Realität ist eine andere“
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Janez Lenarcic, EU-Kommissar für Krisenmanagement.
© Quelle: Virginia Mayo/AP/dpa
Brüssel. Janez Lenarcic ist EU-Kommissar für Krisenmanagement und praktisch seit seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr mit dem Kampf gegen die Corona-Pandemie beschäftigt. Auch die Organisation der Hilfe nach Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Kroatien vor wenigen Tagen gehört zu seinem Aufgabengebiet. Der 53 Jahre alte Diplomat stammt aus Slowenien.
Herr Lenarcic, als die Corona-Pandemie begann, kam es zu chaotischen, nicht abgestimmten Reaktionen in der EU. Warum haben die Regierungen der Mitgliedsstaaten nicht auf Sie gehört? Sie sind doch schließlich EU-Kommissar für Krisenmanagement.
Sie dürfen sich nicht von meinem Titel täuschen lassen. Um eine große Krise wie die Corona-Pandemie bewältigen zu können, braucht man Zuständigkeiten. Und meine Zuständigkeiten sind sehr beschränkt. In meiner Jobbeschreibung steht zum einen, dass ich mich um humanitäre Hilfe kümmere. Diese Aufgabe teile ich mir mit den EU-Mitgliedsstaaten. Aber dabei geht es nur um humanitäre Hilfe außerhalb der EU, nicht innerhalb. Zum anderen bin ich für den Zivilschutz zuständig. Der Zivilschutz aber liegt ausschließlich in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Ich kann da nur unterstützen, nicht entscheiden. Sie sehen: Das Management einer Pandemie, wie wir sie seit Anfang 2020 erleben, ist nicht einfach, wenn man nur begrenzte Zuständigkeiten hat.
Letzte Hürde in Brüssel: EU-Spitze signiert Brexit-Pakt
Die EU-Spitze hat das Brexit-Handelsabkommen unterzeichnet.
© Quelle: dpa
Wir stecken mitten in der zweiten Corona-Welle. Aber immer noch gibt es wenig Anzeichen, dass es zum Beispiel in der Frage der Reisebeschränkungen ein gemeinsames Vorgehen der 27 EU-Staaten geben könnte.
Sie haben Recht. Ich würde mir auch mehr Europa wünschen. Aber die Realität ist leider eine andere. Seit Januar 2020 appelliert die EU-Kommission an die Mitgliedsstaaten, gemeinsam vorzugehen. Wie das zunächst ausging, haben wir alle gesehen. Es gab eine Vielzahl von nationalen Alleingängen. Und so ging es zunächst auch weiter. Anfang September hat die EU-Kommission ein gemeinsames Ampelsystem vorgeschlagen, um die Reisebeschränkungen zu koordinieren. Die Mitgliedsstaaten haben dann fünf oder sechs Wochen gebraucht, um sich auf ein System zu einigen, das wieder nicht verpflichtend für alle war.
Das klingt sehr düster. Gibt es denn keine guten Nachrichten?
Doch, die gibt es, sogar sehr positive Beispiele. Die Mitgliedsstaaten haben der EU-Kommission die Aufgabe übertragen, die Impfstoffverhandlungen zu führen. Die Kommission regelt auch die Verteilung des Impfstoffs zwischen den Mitgliedsstaaten. Das zeigt: Es braucht den politischen Willen zur Einigkeit, dann funktioniert Europa. Ich wünsche mir für das neue Jahr, dass es noch mehr solcher guter Beispiele geben wird. So wie etwa die Reaktion auf das Erdbeben in Kroatien vor wenigen Tagen. Mehr als ein Dutzend EU-Staaten hat Hilfe angeboten, die in weniger als 24 Stunden in dem Katastrophengebiet angekommen ist.
Das hört sich aber an, als wollten Sie mehr Macht für die EU-Kommission?
Nein, das stimmt nicht. Es würde auch viel zu lange dauern, bis die EU-Verträge entsprechend geändert wären. Ich spreche davon, dass die Mitgliedsstaaten mehr Willen zur Zusammenarbeit aufbringen, wenn das allen Menschen in der EU Nutzen bringt.
Gerade in Deutschland hat es aber eine Debatte darüber gegeben, ob es nicht besser gewesen wäre, die Zulassung der Impfstoffe zu beschleunigen. Die EU, hieß es da, sei zu langsam im Vergleich zu Großbritannien oder den USA. Was sagen Sie?
Es kann doch niemand leugnen, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur Ema mit allen Mitgliedsstaaten kooperiert, bevor sie einen Impfstoff zulässt. Wenn man so will, sind 27 Expertenteams plus die Ema mit der Sache beschäftigt. Das ist doch besser und vor allem sicherer als eine Notzulassung in einem einzelnen Land. Außerdem fördert der europäische Weg das Vertrauen der Menschen in den Impfstoff. Dieses Vertrauen brauchen wir, damit sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen und wir so schnell wie möglich wieder zu der Normalität zurückkehren können, die wir vermissen.
Sollten sich die EU-Staaten auf eine Gesundheitsunion einigen, um für Pandemien in der Zukunft besser gerüstet zu sein?
Wir sollten aus dieser Pandemie lernen. Zu diesen Lehren gehört ganz klar die Schaffung einer Gesundheitsunion. Es gibt auch schon einen entsprechenden Vorschlag der EU-Kommission. Der zielt ausdrücklich nicht darauf ab, den Mitgliedsstaaten Zuständigkeiten wegzunehmen und nach Brüssel zu verlagern. Es soll stattdessen gemeinsames Handeln in Krisensituationen gefördert werden. Wir wollen, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur und die Europäische Seuchenschutzbehörde ECDC besser ausgestattet werden. Die Behörde ECDC zum Beispiel darf bis heute nicht einmal Empfehlungen abgeben. Das muss sich ändern. Das ist doch sinnvoll. Dagegen kann doch niemand etwas haben.
Offizieller Impfstart in der EU
In Deutschland und zahlreichen anderen EU-Ländern haben die Massenimpfungen gegen das Coronavirus begonnen.
© Quelle: Reuters
Bislang war es Tradition in den EU-Mitgliedsstaaten, das Verhältnis zur EU so zu beschreiben: Wenn es gut lief, dann war es das Verdienst der nationalen Regierungen. Lief aber etwas schlecht, dann war Brüssel schuld. Wird Corona daran etwas verändern?
Wenn künftig die EU weniger oft als Sündenbock herhalten müsste, dann wäre das eine sehr wichtige Lehre aus der Pandemie. In der ersten Corona-Welle haben wir erlebt, welche Probleme diese Sündenbockmethode bereiten kann. Da gab es Mitgliedsstaaten, die sich über das Fehlen von Schutzausrüstungen beschwerten. Dabei durfte die EU-Kommission solche Ausrüstungen damals gar nicht kaufen. Deswegen haben wir die Einrichtung einer strategischen Reserve auf europäischer Ebene vorgeschlagen, und siehe da: Die Mitgliedsstaaten haben plötzlich zugestimmt. Die Entscheidungsphase dauert gerade einmal zwei Wochen. Das wäre vor der Pandemie niemals geschehen.
In einigen Wochen wird Joe Biden den Amtseid als neuer US-Präsident ablegen. Welche Erwartungen haben Sie an ihn?
Die neue US-Regierung wird die transatlantischen Beziehungen wieder auffrischen. Ich erwarte, dass die USA so schnell wie möglich wieder der Weltgesundheitsorganisation WHO beitreten. Das ist die einzige global wirkende Organisation in Gesundheitsfragen. Sie ist unabdingbar für einen Erfolg im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Ich habe mich auch sehr gefreut, dass Joe Biden bereits angekündigt hat, dass die USA in das Pariser Klimaabkommen zurückkehren werden. Das ist auch in Fragen des Krisenmanagements wichtig. Die Folgen des Klimawandels, der gefährlicher ist als die Corona-Pandemie, können nur durch internationale Zusammenarbeit abgemildert werden.
Sie sind auch für humanitäre Hilfe außerhalb der EU zuständig. Haben internationale Helfer inzwischen Zugang zu den Menschen in den umkämpften Regionen Äthiopiens?
Wir haben leider immer noch keinen vollständigen Zugang zur Region Tigray. Deshalb können wir immer noch nicht sagen, wie viele Opfer die militärischen Auseinandersetzungen gefordert haben und wie viele Menschen vertrieben wurden. Ich kann mich nur wiederholen: Wir brauchen uneingeschränkten und unbehinderten Zugang, um humanitäre Hilfe leisten zu können. Auch müssen die Vorwürfe schleunigst geklärt werden, ob es zu Kriegsverbrechen gekommen ist. Die äthiopische Regierung hat zwar schon viele Versprechen gemacht. Doch jetzt müssen endlich Taten folgen.