EU-Grünen-Abgeordnete: “Die Iraner lassen sich nicht mehr alles gefallen”
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Hannah Maria Neumann spricht auf der 43. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen. (Archivbild).
© Quelle: Saeid Zareian/picture alliance/dpa/Montage RND
Brüssel. Frau Neumann, nach der Tötung von General Soleimani durch die Amerikaner schien die Zustimmung der Iraner für ihr Regime zu wachsen. Seit dem Eingeständnis, das ukrainische Flugzeug abgeschossen zu haben, gibt es wieder Demonstrationen gegen die Regierung in Teheran. Was erleben wir da gerade?
Die iranische Gesellschaft ist so vielschichtig wie jede andere auch. Allerdings lässt sich erkennen, dass es seit geraumer Zeit eine Protestbewegung gegen das Regime gibt, die so schnell nicht mehr verschwinden wird. Darunter sind Frauen, die gegen den Kopftuchzwang demonstrierten. Im November gab es Proteste nach drastischen Benzinpreiserhöhungen, bei denen Hunderte Demonstranten erschossen wurden.
Trotzdem kam es nach der Tötung Soleimanis zu Demonstrationen für das Regime. Da sagten sich offenbar viele Menschen: Hier geht es nicht um einen Konflikt zwischen Opposition und Regierung. Hier wurde der Iran direkt angegriffen. Dazu muss man wissen: Soleimani hatte im Iran bei vielen nicht das Image eines Verbrechers, der er zweifelsohne war. Die Proteste nach dem Abschuss des iranischen Flugzeugs waren dann wieder gegen das Regime gerichtet. Das zeigt: Die Iranerinnen und Iraner lassen sich nicht mehr alles gefallen, und viele sind bereit, ein hohes Risiko dafür einzugehen.
Fürchten Sie, dass die iranischen Revolutionsgarden einen Militärputsch machen könnten?
Im Iran ist schon viel passiert, was keiner von uns vorhergesehen hat. Die Möglichkeit eines Militärputsches gegen die Regierung wurde bereits vor einem Jahr offen diskutiert. Chamenei (Anm. der Red.: Geistliches Oberhaupt des Iran) hat vorsorglich Änderungen in der Militärstruktur vorgenommen, die im Falle eines Putsches sein Fortbestehen sichern. Aber ich glaube, die Revolutionsgarden sind derzeit wegen des Flugzeugabschusses so unter Druck im eigenen Land, dass sie nicht putschen werden. Jetzt geht es erstmal darum, Schadensbegrenzung zu betreiben und weiteren Imageverlust zu verhindern.
Die Gefahr eines Krieges zwischen den USA und dem Iran ist zwar zurückgegangen, aber latent immer noch da. Zündet der nächste Funke das Pulverfass?
Die Gefahr einer direkten militärischen Auseinandersetzung ist vielleicht gesunken, aber die Stellvertreterkriege in Syrien, im Irak, im Jemen gehen weiter und könnten sich sogar noch ausdehnen. Viele Iraker zum Beispiel haben Angst, dass der iranische Einfluss auf ihr Land steigen wird, sollten die Amerikaner den Irak verlassen. Sie fürchten noch schlimmere Repressalien durch Milizen, die vom Iran unterstützt werden.
Die USA sind vor bald 17 Jahren in den Irak einmarschiert. Wie bewerten Sie die Folgen dieser Invasion?
Dem Diktator Saddam Hussein muss man keine Träne nachweinen. Aber die Invasion in den Irak war falsch. Und auch danach haben die Amerikaner gravierende Fehler gemacht, die sich jetzt rächen. So hat auch der iranische Einfluss auf den Irak immer weiter zugenommen.
Die Appelle zur Deeskalation waren von europäischer Seite in den letzten Tagen vor allem an Teheran gerichtet. Hätte Europa auch den USA gegenüber deutlicher werden müssen?
Die Europäer hätten den Amerikanern klar sagen müssen: Wenn ihr so etwas noch einmal macht, dann seid ihr isoliert. Wenn die EU Vermittlerin im Nahen Osten sein will, dann darf sie in der Region nicht als Anhängsel der USA wahrgenommen werden. Sie muss eine eigenständige Akteurin werden.
Wie soll das gehen?
Zunächst einmal muss sich die EU mit beiden Beinen auf das Völkerrecht stellen und sagen: Die Tötung Soleimanis war eindeutig ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Es gibt wohl keine klaren Beweise, dass Soleimani Anschläge gegen die USA geplant hatte, die eine unmittelbare Bedrohung darstellten. Denn solche Beweise hat noch niemand gesehen - nicht einmal die US-Armee, wie US-Verteidigungsminister Mark Esper eingeräumt hat.
Politischen Einfluss hat die EU im Nahen Osten nicht.
Das liegt auch daran, dass die EU oft nicht strategisch vorgeht. Ihre Mitgliedsstaaten haben sich in Einzelaktionen verzettelt. Libyen ist ein gutes Beispiel dafür. Frankreich und Italien haben dort gegeneinander gearbeitet. Die EU muss sich bewusst werden, dass sie nur gemeinsam Erfolg haben wird. Und dann muss sie ihr gesamtes ökonomisches und diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen. Dann ist auch eine Vermittlerrolle keine illusorische Vorstellung.
Solange Donald Trump US-Präsident ist, dürfte das aber doch eine Illusion bleiben.
Trump bekommt auch im eigenen Land Gegenwind für seine erratisch-eskalierende Politik. Diese Chance sollten wir nutzen. Ich sehe keine Alternative zur EU, um eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Also sollten wir es einfach mal versuchen. China und Russland werden es nicht tun, das ist klar. Die kochen ihr eigenes Süppchen.
Wie würde eine Vermittlung aussehen?
Es ist wichtig, dass aus Spekulation nicht Eskalation wird. Oder die Lage eskaliert, weil es keine Gesprächskanäle gibt. Die Gefahr bestand Anfang des Jahres ja ganz konkret und sie ist auch noch nicht gebannt. Wenn wir als Europäer da Gespräche vermitteln, können wir diese Gefahr in der Region eindämmen. Man muss diese Gesprächsangebote aber erst einmal machen und kann nicht von vornherein sagen: Ach, das Angebot nimmt doch sowieso niemand an. Wenn man so denkt, dann kann Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren Anspruch gleich vergessen, eine „geopolitische Kommission“ führen zu wollen. Und das wäre schade.
Ihr Optimismus in allen Ehren – aber zeigt nicht gerade der Streit um den Atomdeal mit dem Iran, dass der Einfluss der Europäer sehr gering ist? Jetzt droht dem Abkommen das endgültige Aus, wenn das Streitschlichtungsverfahren scheitert.
Der Schlichtungsmechanismus ist kein Automatismus, der zu einem Ende des Atomdeals führt. Jetzt wird erstmal untersucht, ob der Iran gegen das Abkommen verstößt. Die Uhr hat angefangen zu ticken, aber noch lebt das Atomabkommen. Es kommt jetzt darauf an, dass die EU ausreichend diplomatischen Druck auf die USA und den Iran ausübt und wie die Führung in Teheran reagiert. Das Regime kommt immer stärker in Bedrängnis. Deswegen ist die Regierung in Teheran gut beraten, sich auf Verhandlungen einzulassen – und sei es alleine aus dem Kalkül heraus, ihr eigenes Fortbestehen zu sichern.
Hannah Neumann ist promovierte Konfliktforscherin. Die 35 Jahre alte Frau ist seit vergangenem Sommer Europa-Abgeordnete der Grünen in Brüssel. Sie leitet die Delegation "Arabische Halbinsel" des Europäischen Parlaments.