Estland lässt die Algorithmen für seine Bürger arbeiten
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Die Esten erledigen vieles per Mouse-Click.
© Quelle: Andrea Warnecke/dpa-tmn
Berlin. Die Esten wissen Bequemlichkeit zu schätzen. Vom Sofa aus geben wir bei Wahlen unsere Stimmen ab. Wir unterzeichnen Dokumente, ganz gleich wie weit entfernt wir von der zuständigen Behörde sind. Nach drei Minuten und wenigen Klicks ist die Steuererklärung fertig. Via Internet gründen wir auch Unternehmen oder rufen unsere Krankenakte ab. Die Digitalisierung macht das Leben in Estland einfach.
Ein geflügeltes Wort lautet bei uns: Drei Lebenslagen erfordern den Weg zum Amt – die Heirat, die Scheidung, der Kauf einer Immobilie. Alles andere geht auch am Rechner.
Manchmal aber trübt dann doch die Sorge um Daten und Privatsphäre die Freude am Komfort. Als die Esten zu Jahresbeginn ein neues Parlament wählten, fragten sich einige, ob das Online-Votum auch tatsächlich sicher sei. Ob die virtuelle Abstimmung nicht doch der Manipulation Tür und Tor öffne.
Die Mehrheit wählte analog und ging ins Wahllokal. Rund 43 Prozent der Bürger aber stimmten – Zweifel hin oder her – online ab.
Ohne Rechtsstaat kein Vertrauen
Die Regierung hat diese Sorgen aufgegriffen. Im Sommer gründete sie eine Kommission. Sie soll sicherstellen, dass Online-Wahlen in Estland auch wirklich sicher sind.
Siim Sikkut gilt als oberster IT-Beauftragter des Landes. Sikkut ist stellvertretender Wirtschafts- und Kommunikationsminister Estlands. Für ihn ist klar: „Ohne Regulierung, Schutz und Rechtsstaatlichkeit lässt sich das Vertrauen der Bevölkerung in die digitale Infrastruktur des Landes nicht gewinnen.“
Der Vize-Minister sagt, dass Estland hier seine Hausaufgaben allemal erledige: Der Datenaustausch funktioniere zuverlässig. X-Road heißt das Netz, in dem sämtliche Daten vertraulich hin und her gesendet werden können.
Dem Datenschutz dient auch eine ID-Chipkarte, die aus dem Alltag keines Esten fehlen darf. Angeschlossen ans Netz, weist sie zusammen mit Passwörtern die Authentizität des Nutzers nach.
Der digitale Bürgerdienst ist auch deshalb so ausgefeilt, weil die Esten ihn gern nutzen. So werden Fehler schnell erkannt und rasch behoben. Die OSZE hat Wahlen in Estland mehrmals überwacht, ohne dabei auf Sicherheitslücken zu stoßen. Immer wieder kommen Delegationen aus anderen Staaten nach Tallinn, um sich für die Digitalisierung bei sich daheim etwas abzuschauen.
Ein zentraler Grund für das vergleichsweise große Vertrauen, das die Esten in ihren digitalen Staat setzen, ist dessen Transparenz. Jeder kann jederzeit checken, welches Amt und welcher Beamte die eigenen Daten eingesehen und bearbeitet haben. Datenmissbrauch hinterlässt also Spuren. Bei Papierakten kann man sich da nicht sicher sein.
Estlands IT-Vizeminister Sikkut ist sich jedenfalls sehr sicher: „Digital sind Daten viel besser zu schützen als analog.“
Kleines Land, große Chancen
Estland ist ein kleiner Staat mit rasch alternder Bevölkerung. Würden öffentliche Einrichtungen den Dienst am Bürger analog abwickeln, hätte Estland schnell Personalprobleme. Die Effizienz würde leiden. Also lässt es die Algorithmen für seine Bürger arbeiten. Damit spart Estland nicht nur Kosten – es verdient sogar dazu.
Das e-Residenz-Programm spült Geld aus aller Welt in den Staatshaushalt. Seit 2014 können Nicht-Esten von überall aus eine Identitätskarte beantragen, mit der sie Zugang zur estnischen Verwaltung erhalten. Vor allem Unternehmer nutzen dieses Angebot, um schnell und ohne Papierkram in Estland ein Start-up zu gründen.
Der Regierungsvertreter Sikkut sieht das so: „Für Deutsche, Franzosen oder Italiener ist es sehr viel einfacher, mithilfe einer E-Residenz ein Unternehmen in Estland zu gründen als in ihren Heimatländern."
Bisher sind mehr als 62 000 Personen estnische e-Residenten, die Anzahl der auf diesem Weg in Estland gegründeten Unternehmen beläuft sich auf mehr als 10 000. Nicht jeder estnische e-Resident war tatsächlich schon mal selbst in Estland. Aber all ihre Unternehmen tragen zum estnischen Staatshaushalt bei. In den vergangenen fünf Jahren hat Estland auf diese Weise mehr als 31 Millionen Euro eingenommen.
Aber die Freude über die sprudelnden Steuereinnahmen droht den Blick auf die Geschäftspraktiken ein wenig zu verstellen. Einige Esten fragen sich: Was sind das genau für Unternehmen, die in ihrem Land gegründet werden? In letzter Zeit häufen sich Berichte über Geldwäsche, die ausländische Investoren über estnische Konten abwickeln. Die Regierung aber winkt ab: E-Residenten würden gründlich unter die Lupe genommen – viel gründlicher als jeder andere ausländische Investor.
Musterland mit weißen Flecken
Der estnische Staat setzt den Weg in die digitale Zukunft unbeirrt fort. Ein aktuelles Projekt der Regierung sieht die Abschaffung von Formularen vor, die Eltern nach der Geburt eines Kindes im Netz ausfüllen müssen, um staatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten. Künftig soll die Hilfe nach der Geburt des Kindes automatisch kommen.
Und zwar überall hin. Noch gibt es selbst im digitalen Musterland einige weiße Flecken ohne Internetanschluss. Um das Vertrauen in den digitalen Staat stärken, will die Regierung jeden Esten erreichen und ansprechen können – in jedem Winkel Estlands.
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Bretty Sarapuu
Bretty Sarapuu ist Redakteurin der estnischen Tageszeitung „Postimees“, wo sie vor allem über internationale Politik berichtet. In den vergangenen Wochen war Bretty Sarapuu im Rahmen eines IJP-Stipendiums Gastjournalistin im Hauptstadtbüro des RedaktionsNetzwerks Deutschland RND.