Erst Schreie, dann Stille: Wie die Nazis 4300 Sinti und Roma ermordeten

Gedenkstein im Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin.

Gedenkstein im Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin.

Berlin. Die Vernichtung nahm den gewohnten Lauf. Der SS-Mann und seine Helfers­helfer entsicherten ihre Pistolen und Gewehre und forderten die entkleideten Menschen auf, in jene drei Räume zu gehen, in denen sie vergast werden sollten. Während sie ihren letzten Gang antraten, weinten viele vor Verzweiflung. Auch aus den Gas­kammern konnte man verzweifelte Rufe und Schreie hören, bis das tödliche Gas seine Wirkung getan und auch die letzte Stimme zum Ersticken gebracht hatte.

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Was der jüdische KZ-Häftling Filip Müller in der Nacht vom zweiten auf den dritten August 1944 beobachtet und später beschreibt ist die Ermordung von 4300 Sinti und Roma im Konzentrations­lager Auschwitz Birkenau. Der damals 22-jährige Müller ist einer der wenigen Zeugen der Auflösung des von den Nazis sogenannten „Zigeuner­lagers“. Als Teil des „Sonder­kommandos“ ist er gezwungen, die Ermordung der Häftlinge in den Gas­kammern vorzubereiten und ihre Leichen zu verbrennen.

Zwischen Februar 1943 und August 1944 wurden 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa in das Konzentrations- und Vernichtungs­lager Auschwitz Birkenau verschleppt. Fast 90 Prozent der Inhaftierten sind dort umgekommen, wobei der Groß­teil der Menschen nicht vergast wurde, sondern an Hunger, Seuchen oder Miss­handlungen gestorben ist, sagt der Historiker Frank Reuter von der Forschungs­stelle Antiziganismus der Universität Heidelberg. „Nachdem die SS in den Monaten zuvor die arbeits­fähigen Häftlinge in andere Lager deportiert hatte, blieben im Sommer 1944 die Kranken und Schwachen zurück und die Alten und die Kinder – alle wurden ermordet“, so der Wissenschaftler.

Der Antiziganismus ist in der Gesellschaft tief verwurzelt

Am Montag erinnert der Zentral­rat der Sinti und Roma Deutsch­land mit zwei parallel statt­findenden Gedenk­veranstaltung an die Opfer. Neben einer Online­gedenk­stunde wird es auch eine Veranstaltung samt Kranz­niederlegung in Auschwitz geben. Rund einhundert Gäste werden daran teilnehmen, darunter auch der deutsche Botschafter.

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Romani Rose, Vorsitzender des Zentral­rats Deutscher Sinti und Roma, betont die Bedeutung des 2. August: „Die Erinnerung ist für unseren demokratischen Rechts­staat unerlässlich.“ Gerade in Zeiten eines wieder stärker um sich greifenden Antiziganismus sei es wichtig, zu erinnern, damit auch heran­wachsende Generationen demokratische Verantwortung übernehmen könnten.

Rose fordert eine breitere und bewusstere Sensibilisierung der Gesellschaft. Zwar sei in den vergangenen Jahren politisch viel erreicht worden, gesellschaftlich bleibe aber noch vieles zu tun. „Der Antiziganismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, antiziganistische Klischees werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben“, sagt Rose. Außerdem gebe es in Deutschland nicht das gleiche Bewusstsein für Antiziganismus wie für Antisemitismus, klagt der Zentralrats­vorsitzende. „Das muss sich ändern.“

Noch immer würden Angehörige der Minderheit ihre Zugehörigkeit aus Angst vor Ausgrenzung verheimlichen, dabei stünden kulturelle Identität und Zugehörigkeit zu einer Nation nicht im Gegensatz zueinander. Rose warnt: „Im Kampf gegen Antiziganismus und Antisemitismus geht es nicht um die Rechte von Minderheiten, es geht um die Verteidigung unseres demokratischen Rechts­staates.“

Romani Rose: „Wir dürfen keine Apartheit vor unserer Haustür dulden“

Mit Blick auf die Lebens­situation der Sinti und Roma in Ost­europa fordert Rose mehr Engagement der Bundes­regierung: „Dort herrscht eine, für eine demokratische Institution wie die EU unwürdige Situation.“ Sinti und Roma müssten gleich­berechtigt in ihren Heimat­ländern in Ost- und Südost­europa leben dürfen, mit Zugang zu Arbeit und Bildung: „Wir dürfen keine Apartheid vor unserer Haustür dulden.“

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Obwohl der 2. August seit nunmehr sechs Jahren der europäische Holocaust­gedenktag für Sinti und Roma ist und obwohl dem Genozid 500.000 Menschen zum Opfer fielen, ist der Gedenk­tag in Deutschland weitgehend unbekannt. Markus End, Vorstands­vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismus­forschung und Mitglied der vom Bundes­tag eingesetzten Kommission Antiziganismus, sagt dem RND, dass ihn das nicht wundert. „Der Völker­mord an den Frauen, Männern und Kindern der Sinti und Roma war lange kein Thema in Deutschland“, sagt End. Dass sich das nun langsam ändere, sei den Aktivisten, Organisationen und Verbänden der Sinti und Roma zu verdanken, die lange für die Anerkennung gekämpft hätten.

Die Arbeit der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, so End, habe gezeigt, was viele schon zuvor geahnt hätten: „Die Kontinuitäten des Antiziganismus reichen vom National­sozialismus bis in die Gegenwart: Ein grundlegender Perspektiv­wechsel hat in der deutschen Gesellschaft kaum stattgefunden.“ Zwar habe der Antiziganismus seit 1945 an Gewalt eingebüßt und zeige sich häufig in subtileren Formen, er sei aber noch immer vorhanden und setze sich auch in Strukturen und Institutionen wie Polizei, Politik und Medien fort. „Es fehlt in Deutschland noch immer an einer ernst­haften Auseinander­setzung mit den Verbrechen und den Kontinuitäten des Antiziganismus“, sagt End, „bevor diese nicht stattfindet, wird sich nichts grundlegend ändern.“

Die historische Verspätung der Aufarbeitung beklagt auch Historiker Frank Reuter: „Die Gesamt­zahl der Ermordeten von 500.000 ist eine Annäherung, eine Schätzung – wir werden nie sagen können, wie viele Menschen genau ermordet wurden.“ Viele wichtige Quellen seien nach 1945 nicht gesichert worden und Forschung habe zunächst nicht stattgefunden – „es hat nicht interessiert“, so der Heidelberger Forscher. Vor allem in Polen, Jugoslawien und Russland, wo viele Menschen den Massen­erschießungen der SS und der Wehrmacht zum Opfer fielen, sei die Forschung bis heute unzureichend.

Umso wichtiger seien Gedenk­tage wie der 2. August für unser historisches Gedächtnis, sagt Reuter: „In dieser einen Tat­nacht verdichtet sich dieser in seinem Ausmaß nicht fassbare Genozid zu einem einzelnen Ereignis: Die Barbarei des industriellen Massen­mordes in den Gas­kammern wird hier sichtbar.“

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