Erst Schreie, dann Stille: Wie die Nazis 4300 Sinti und Roma ermordeten
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Gedenkstein im Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin.
© Quelle: imago images/Christian Spicker
Berlin. Die Vernichtung nahm den gewohnten Lauf. Der SS-Mann und seine Helfershelfer entsicherten ihre Pistolen und Gewehre und forderten die entkleideten Menschen auf, in jene drei Räume zu gehen, in denen sie vergast werden sollten. Während sie ihren letzten Gang antraten, weinten viele vor Verzweiflung. Auch aus den Gaskammern konnte man verzweifelte Rufe und Schreie hören, bis das tödliche Gas seine Wirkung getan und auch die letzte Stimme zum Ersticken gebracht hatte.
Was der jüdische KZ-Häftling Filip Müller in der Nacht vom zweiten auf den dritten August 1944 beobachtet und später beschreibt ist die Ermordung von 4300 Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz Birkenau. Der damals 22-jährige Müller ist einer der wenigen Zeugen der Auflösung des von den Nazis sogenannten „Zigeunerlagers“. Als Teil des „Sonderkommandos“ ist er gezwungen, die Ermordung der Häftlinge in den Gaskammern vorzubereiten und ihre Leichen zu verbrennen.
Zwischen Februar 1943 und August 1944 wurden 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz Birkenau verschleppt. Fast 90 Prozent der Inhaftierten sind dort umgekommen, wobei der Großteil der Menschen nicht vergast wurde, sondern an Hunger, Seuchen oder Misshandlungen gestorben ist, sagt der Historiker Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg. „Nachdem die SS in den Monaten zuvor die arbeitsfähigen Häftlinge in andere Lager deportiert hatte, blieben im Sommer 1944 die Kranken und Schwachen zurück und die Alten und die Kinder – alle wurden ermordet“, so der Wissenschaftler.
Der Antiziganismus ist in der Gesellschaft tief verwurzelt
Am Montag erinnert der Zentralrat der Sinti und Roma Deutschland mit zwei parallel stattfindenden Gedenkveranstaltung an die Opfer. Neben einer Onlinegedenkstunde wird es auch eine Veranstaltung samt Kranzniederlegung in Auschwitz geben. Rund einhundert Gäste werden daran teilnehmen, darunter auch der deutsche Botschafter.
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, betont die Bedeutung des 2. August: „Die Erinnerung ist für unseren demokratischen Rechtsstaat unerlässlich.“ Gerade in Zeiten eines wieder stärker um sich greifenden Antiziganismus sei es wichtig, zu erinnern, damit auch heranwachsende Generationen demokratische Verantwortung übernehmen könnten.
Rose fordert eine breitere und bewusstere Sensibilisierung der Gesellschaft. Zwar sei in den vergangenen Jahren politisch viel erreicht worden, gesellschaftlich bleibe aber noch vieles zu tun. „Der Antiziganismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, antiziganistische Klischees werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben“, sagt Rose. Außerdem gebe es in Deutschland nicht das gleiche Bewusstsein für Antiziganismus wie für Antisemitismus, klagt der Zentralratsvorsitzende. „Das muss sich ändern.“
Noch immer würden Angehörige der Minderheit ihre Zugehörigkeit aus Angst vor Ausgrenzung verheimlichen, dabei stünden kulturelle Identität und Zugehörigkeit zu einer Nation nicht im Gegensatz zueinander. Rose warnt: „Im Kampf gegen Antiziganismus und Antisemitismus geht es nicht um die Rechte von Minderheiten, es geht um die Verteidigung unseres demokratischen Rechtsstaates.“
Romani Rose: „Wir dürfen keine Apartheit vor unserer Haustür dulden“
Mit Blick auf die Lebenssituation der Sinti und Roma in Osteuropa fordert Rose mehr Engagement der Bundesregierung: „Dort herrscht eine, für eine demokratische Institution wie die EU unwürdige Situation.“ Sinti und Roma müssten gleichberechtigt in ihren Heimatländern in Ost- und Südosteuropa leben dürfen, mit Zugang zu Arbeit und Bildung: „Wir dürfen keine Apartheid vor unserer Haustür dulden.“
Obwohl der 2. August seit nunmehr sechs Jahren der europäische Holocaustgedenktag für Sinti und Roma ist und obwohl dem Genozid 500.000 Menschen zum Opfer fielen, ist der Gedenktag in Deutschland weitgehend unbekannt. Markus End, Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung und Mitglied der vom Bundestag eingesetzten Kommission Antiziganismus, sagt dem RND, dass ihn das nicht wundert. „Der Völkermord an den Frauen, Männern und Kindern der Sinti und Roma war lange kein Thema in Deutschland“, sagt End. Dass sich das nun langsam ändere, sei den Aktivisten, Organisationen und Verbänden der Sinti und Roma zu verdanken, die lange für die Anerkennung gekämpft hätten.
Die Arbeit der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, so End, habe gezeigt, was viele schon zuvor geahnt hätten: „Die Kontinuitäten des Antiziganismus reichen vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart: Ein grundlegender Perspektivwechsel hat in der deutschen Gesellschaft kaum stattgefunden.“ Zwar habe der Antiziganismus seit 1945 an Gewalt eingebüßt und zeige sich häufig in subtileren Formen, er sei aber noch immer vorhanden und setze sich auch in Strukturen und Institutionen wie Polizei, Politik und Medien fort. „Es fehlt in Deutschland noch immer an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Verbrechen und den Kontinuitäten des Antiziganismus“, sagt End, „bevor diese nicht stattfindet, wird sich nichts grundlegend ändern.“
Die historische Verspätung der Aufarbeitung beklagt auch Historiker Frank Reuter: „Die Gesamtzahl der Ermordeten von 500.000 ist eine Annäherung, eine Schätzung – wir werden nie sagen können, wie viele Menschen genau ermordet wurden.“ Viele wichtige Quellen seien nach 1945 nicht gesichert worden und Forschung habe zunächst nicht stattgefunden – „es hat nicht interessiert“, so der Heidelberger Forscher. Vor allem in Polen, Jugoslawien und Russland, wo viele Menschen den Massenerschießungen der SS und der Wehrmacht zum Opfer fielen, sei die Forschung bis heute unzureichend.
Umso wichtiger seien Gedenktage wie der 2. August für unser historisches Gedächtnis, sagt Reuter: „In dieser einen Tatnacht verdichtet sich dieser in seinem Ausmaß nicht fassbare Genozid zu einem einzelnen Ereignis: Die Barbarei des industriellen Massenmordes in den Gaskammern wird hier sichtbar.“