Erdogan-Krise: Wie die Macht des türkischen Präsidenten bröckelt

Erdogan inszeniert sich gern als starker Anführer. Doch seine Macht bröckelt.

Erdogan inszeniert sich gern als starker Anführer. Doch seine Macht bröckelt.

Ankara. Wie ein Sinnbild für den Zustand der Regierung in der Türkei wirkte der Auftritt des übermächtigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor zehn Tagen in der zentralanatolischen Großstadt Konya. Wo ihn früher Hunderttausende feierten, musste der Präsident diesmal zwei Stunden warten, bis seine Partei ein paar hundert Claqueure zusammengetrommelt hatte. Eine beispiellose Demütigung für den erfolgsverwöhnten Staatschef, mitten im konservativen Herzland seiner islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP).

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Der Grund für die Blamage: Konya ist die Heimat und politische Basis des einstigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, der von 2014 bis 2016 selbst AKP-Chef war und seit Jahresbeginn zu Erdogans schärfstem innerparteilichen Kritiker aufgestiegen ist. Davutoglu warf der AKP in mehreren „Manifesten“ vor, sie habe sich von ihren vier Gründungsprinzipien „Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ bis zur Unkenntlichkeit entfernt.

Tatsächlich hatte Erdogan ein Parteiausschlussverfahren gegen seinen früheren engen Mitarbeiter einleiten lassen, hatte Parteidissidenten öffentlich „Verräter“ genannt. Doch die leeren Zuhörerreihen in Konya sind ein unübersehbares Anzeichen, dass Erdogans Machtbasis nicht nur in der Partei, sondern auch bei den Wählern ins Rutschen gerät.

Im vergangenen Jahr verließen 770.000, in diesem Jahr bisher 400.000 Mitglieder, die Partei, die nach eigenen Angaben aber noch immer 9,9 Millionen Mitglieder hat. Für die Abtrünnigen kann der 2016 als Ministerpräsident geschasste Davutoglu zu einer Alternative werden, denn er gilt im Gegensatz zu anderen Parteifunktionären als persönlich integer und nicht korrupt.

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Aus Erdogans ehemaligen Weggefährten werden jetzt Konkurrenten

Am Freitag kamen der 60-jährige Ex-Premier und sechs weitere ehemalige AKP-Abgeordnete einem Ausschluss zuvor und traten gemeinsam aus der Partei aus. Sie vollzogen damit den Bruch mit Erdogan und kündigten die Gründung einer neuen Partei an, die zu den AKP-Grundprinzipien zurückkehren wolle.

Davutoglu warf der Führung vor, sie habe die Partei der Kontrolle einer „kleinen Clique“ unterworfen und sei „nicht länger imstande, Lösungen für die Probleme unseres Landes anzubieten“. Der Davutoglu-Gefährte Ömer Ünal aus Konya beklagte am Wochenende die „Übernahme“ der Partei durch Erdogan-treue Hardliner. Inzwischen treten täglich weitere, teils berühmte Granden aus der mächtigen Partei aus, die seit 17 Jahren das Land regiert.

Mit Ahmet Davutoglu (r.) hat ein wichtiger Weggefährte Erdogans die AKP verlassen.

Mit Ahmet Davutoglu (r.) hat ein wichtiger Weggefährte Erdogans die AKP verlassen.

Das Ausbluten begann mit der Niederlage bei den Kommunalwahlen im Frühjahr. Erdogans Misserfolg war Ausdruck der Unzufriedenheit über den wirtschaftlichen Niedergang, über die hohe Arbeitslosigkeit und die mehr als vier Millionen Syrer und anderen Flüchtlinge im Land. Seit die neugewählten Bürgermeister der sozialdemokratischen CHP begannen, die Vetternwirtschaft ihrer AKP-Vorgänger zu enthüllen, vergeht kaum ein Tag ohne neue erschütternde Korruptionsvorwürfe.

Zudem beging der eigentlich als ausgebuffter Taktiker geltende Erdogan nicht nur den Fehler, die Kommunalwahl in Istanbul wiederholen zu lassen. Er ließ auch die demokratisch gewählten Bürgermeister der drei wichtigsten kurdisch geprägten Großstädte absetzen, was selbst bei AKP-Wählern zu Unmut führte, und er verteidigte der Korruption beschuldigte Amtsträger der AKP.

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Im Chor seiner Kritiker ist Davutoglu aber nur die lauteste Stimme. Auch der AKP-Mitgründer und ehemalige türkische Außenminister Ali Babacan verließ Ende Juli die AKP, gefolgt vom ehemaligen Justizminister Sadullah Ergin. Beide wollen Medienberichten zufolge zusammen mit dem populären Ex-Staatspräsidenten Abdullah Gül noch vor Jahresende eine neue liberal-konservative Partei gründen.

Sie zielen auf den desillusionierten wirtschaftsliberalen und prowestlichen Flügel der AKP, während Davutoglu die fromme Kernklientel anspricht. Das Wählerpotenzial beider Parteien liegt laut Wahlforschern jeweils im Bereich zwischen 4 und 10 Prozent.

Erdogan hat keine Mehrheit mehr

Gleichzeitig erwächst Erdogan im neuen Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem Imamoglu ein gefährlicher potenzieller Präsidentschaftskonkurrent, der es anders als seine kemalistischen CHP-Vorgänger darauf anlegt, eine Koalition mit den Kurden zu schmieden. Auch könnte der als „kurdischer Mandela“ gerühmte Ex-HDP-Chef Selahattin Demirtas nach zweieinhalb Jahren aus der Haft entlassen werden, nachdem türkische Gerichte ihn vom Terrorvorwurf freisprachen. Das sind Entwicklungen, die die politischen Kräfteverhältnisse im Land grundlegend verschieben.

Nachdem die türkische Wahlbehörde die Bürgermeisterwahl in Istanbul im Mai auf Antrag der AKP annulliert und Neuwahlen verkündet hatte, gingen Tausende Menschen auf die Straße.

Nachdem die türkische Wahlbehörde die Bürgermeisterwahl in Istanbul im Mai auf Antrag der AKP annulliert und Neuwahlen verkündet hatte, gingen Tausende Menschen auf die Straße.

Jüngste Meinungsumfragen ergaben, dass die AKP bei Parlamentswahlen nur noch 30 Prozent der Stimmen erhielte. Auch das Vertrauen in den Präsidenten sinkt. Er ist noch immer der beliebteste Politiker des Landes, doch stehen laut dem renommierten Umfrageinstitut MetroPoll derzeit nur noch rund 44 Prozent der Bevölkerung hinter ihm, 10 Prozent weniger als vor einem Jahr. Allerdings führt die Regierungspartei trotz der inneren Erosion immer noch zehnmal so viele Mitglieder in ihren Registern wie die sozialdemokratische CHP.

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Auch deshalb setzt Erdogan auf seine bewährten Gegenstrategien: Kaltstellen innerparteilicher Konkurrenten, Zwist in die Opposition tragen, Dämonisierung der prokurdischen HDP mit dem möglichen Ziel eines Verbots. Aber all das dürfte seine Probleme nicht lösen. Denn für die entscheidende Wahl des Staatspräsidenten gilt seit dem Wechsel zum Präsidialsystem 2017, dass der Sieger 50 Prozent plus eine Stimme auf sich vereinen muss, was Erdogan derzeit nicht einmal mithilfe seines Quasikoalitionspartners, der rechtsextremen MHP, schaffen kann.

Mehr zum Thema: Erdogans Absichten sind brandgefährlich

Yavuz Baydar, der Chefredakteur des exiltürkischen Internetnachrichtenportals „Ahvalnews“, ist deshalb davon überzeugt, dass Erdogans Maßnahmen gegen die HDP und seine jüngsten Verständigungssignale in Richtung der CHP seinem letzten Überlebensplan dienen. Er wolle als ultimative Option einen nationalen Notstand erklären und dann eine „große nationale Einheitskoalition“ mit der nicht-kurdischen Opposition bilden. Doch könnten ihm die AKP-Dissidenten Davutoglu und Babacan in die Parade fahren, falls es ihnen gelänge, genügend AKP-Abgeordnete im Parlament auf ihre Seite zu ziehen und eine eigene Fraktion zu bilden. Um diesen Angriff zu kontern, könnte Erdogan dann als allerletztes Mittel erneut den Ausnahmezustand ausrufen und mit diktatorischen Vollmachten weiterregieren.

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