Erdogan in Erklärungsnot: Ein türkischer Mafiaboss packt aus
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gerät in Bedrängnis.
© Quelle: Getty Images
Istanbul. Es sind Einschaltzahlen, von denen viele Influencer träumen – und vor denen sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan allmählich fürchten muss: 70,3 Millionen Ansichten hat Sedat Peker bisher für seine sieben Auftritte bei Youtube bekommen. Der türkische Mafiaboss hat eine ständig wachsende Zuschauergemeinde von inzwischen 480.000 Abonnenten, seit er am 2. Mai begann, mit einer Serie von Videos aus seinem Exil in Dubai angebliche Verbindungen der Politik mit dem organisierten Verbrechen zu enthüllen. Die Rede ist von Drogendeals, Vergewaltigungen und Auftragsmorden.
In der siebten Folge, die seit Sonntag online ist, schildert Peker in einem 77-minütigen Monolog unter anderem, wie ihn 1996 der damalige Innenminister Mehmet Agar mit der Ermordung des zyprischen Politikers und Journalisten Kutlu Adali beauftragt habe. Er habe für das Attentat seinen Bruder Attila angeheuert, berichtet Peker.
Der Anschlag sei aber fehlgeschlagen. Adali wurde wenige Monate später von einem anderen Killer ermordet. Agar habe bereits 1993 den Mord an dem türkischen Journalisten Ugur Mumcu in Auftrag gegeben, erzählt Peker in dem Video. Ein Prozess gegen Agar und weitere Angeklagte wegen ungeklärter Morde aus den 90er-Jahren wird demnächst neu aufgerollt, nachdem ein Gericht kürzlich frühere Freisprüche aufgehoben hat.
Pekers Erzählungen führen zurück in eine dunkle Ära der Türkei. In den 1990er-Jahren gab es konspirative Verflechtungen des organisierten Verbrechens mit dem Militär, der Polizei und Geheimdiensten, der Politik und der Justiz. Man sprach vom „tiefen Staat“.
Flucht ermöglicht
Aber ist das alles Vergangenheit? Der 49-jährige Mafioso, der wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung vorbestraft ist und schon wegen Mordverdachts vor Gericht stand, plaudert auch über die Gegenwart. Den Sohn des früheren Premierministers und Erdogan-Vertrauten Binali Yildirim beschuldigt er, einen florierenden Kokainschmuggel zwischen der Dominikanischen Republik und der Türkei zu betreiben. Yildirim dementierte die Vorwürfe noch am Sonntag.
Immer wieder geht es in den Enthüllungen des Mafioso um Innenminister Süleyman Soylu. Der habe ihn vor seiner drohenden Festnahme gewarnt und ihm so Anfang 2020 die Flucht ermöglicht, die ihn über mehrere Balkanländer schließlich nach Dubai führte, erzählt Peker. Jetzt fühlt er sich offenbar von Soylu im Stich gelassen, denn der geht in der Türkei gegen Mitglieder seiner Gang vor. Der Innenminister, der als zweitmächtigster Mann der Türkei nach Erdogan gilt und als dessen möglicher Nachfolger gehandelt wird, bestreitet die Darstellung, zeigte Peker vergangene Woche wegen Beleidigung an und spricht von ihm als „Dreckskerl“.
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© Quelle: Reuters
Erdogan schwieg wochenlang zu den Enthüllungen des Mafiabosses. Erst vergangene Woche ging er in einer Kabinettssitzung darauf ein. Seine Lesart ist, dass die Opposition die Mafia für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuche. Seine Regierung, die schon bei ihrem Antritt vor 19 Jahren die Kriminalität bekämpft habe, werde „auch dieses schmutzige Drehbuch durchkreuzen“.
Tatsächlich profilierte sich Erdogan zu Beginn seiner Regierungszeit als proeuropäischer Reformer und politischer Saubermann, der die Verbindungen zwischen der Regierung und dem organisierten Verbrechen zerschlagen wollte. Aber um seine Wiederwahl zu sichern, ging Erdogan 2016 eine Koalition mit Devlet Bahceli und seiner ultranationalistischen MHP ein, der Partei der berüchtigten Grauen Wölfe, die seit den 1970er-Jahren für Hunderte politische Morde verantwortlich gemacht wurden.
Mit diesem Pakt holte sich Erdogan den „tiefen Staat“ in seine Regierung. So setzte Bahceli bei Erdogan die Freilassung von Alaatin Cakici durch, der als Pate der türkischen Mafia gilt. Mit einer maßgeschneiderten Amnestie kamen im April 2020 neben Cakici auch Hunderte andere Unterweltfiguren aus dem rechtsextremen Milieu frei. Kenner der Szene sagen, dass Cakici schon aus dem Gefängnis die Regierung unter Druck gesetzt habe, seinen Rivalen Peker auszuschalten. Peker fühle sich deshalb verraten – und nehme nun Rache.
„Bruder Tayyip“
Mit wachsender Nervosität erwartet man in Regierungskreisen die nächsten Enthüllungsvideos aus Dubai. Noch hat der Mafiaboss Staatschef Erdogan in seinen Monologen nicht direkt aufs Korn genommen. Er spricht von ihm als „Bruder Tayyip“. Aber die Anschuldigungen gegen Soylu, Yildirim und andere Parteigrößen bringen Erdogan in Zugzwang. Seine Popularitätswerte leiden ohnehin unter der wachsenden Arbeitslosigkeit und der steigenden Inflation.
In jüngsten Umfragen des angesehenen Meinungsforschungsinstituts Metropoll liegt die Erdogan-Partei AKP nur noch bei 27 Prozent – gegenüber 42,6 Prozent bei der Parlamentswahl vom Juni 2018. Der frühere Justizminister Cemil Cicek warnt bereits, wenn sich auch „nur ein Promille“ der Behauptungen Pekers als wahr herausstellte, wäre das für die Regierung katastrophal.
Wer als Journalist die Regierung mit den Anschuldigungen des Mafiabosses konfrontiert, bekommt Probleme. Das erfuhr vergangenen Freitag Musab Turan, Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Bei einer Pressekonferenz fragte er zwei Minister, wie die Regierung auf die Vorwürfe zu reagieren gedenke. Der Name des Innenministers sei „mit schweren moralischen Fehlern“ verbunden, so Turan. Noch am Freitagabend feuert die Agentur ihren Reporter fristlos wegen „Verstoßes gegen journalistische Grundsätze und Verbreitung politischer Propaganda“.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt gegen den Journalisten, um zu klären, ob er „einer Terrororganisation angehört“. Fahrettin Altun, Kommunikationsdirektor von Präsident Erdogan, erklärte auf Twitter: „Wer das Ansehen unseres Staates verletzt, wird den Preis dafür bezahlen“. Gemeint war nicht der Mafiaboss Peker, sondern der Journalist Turan.