Erdogans diplomatische Eskalation ist ein Zeichen der Schwäche
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/E53XWB4AKJHUVJK6P54MGVYYEM.jpg)
Mit lauten Poltertönen weiß der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von seiner innen- und wirtschaftspolitischen Schwäche abzulenken. Das Kalkül dürfte dieses Mal jedoch nicht aufgehen.
© Quelle: imago images/Depo Photos
Berlin. Recep Tayyip Erdogan präsentiert sich gern als starker Mann. Als Beschützer der Türken vor den westlichen Mächten, die sich allesamt gegen das Land verschworen hätten. Auch die jüngste Drohung des türkischen Präsidenten, die Botschafter Deutschlands und neun weiterer Länder zur Persona non grata zu erklären, zu unerwünschten Personen, gehört in die Reihe dieser Inszenierungen. Dabei ist sie, wie viele der vermeintlich stärksten Auftritte Erdogans, ein deutliches Zeichen seiner Schwäche.
Entspannung im Botschafter-Streit mit der Türkei
Die Entspannung führte am Devisenmarkt zur Erholung der türkischen Lira.
© Quelle: Reuters
Vordergründig geht es bei der Drohung um die Einmischung zehn westlicher Länder in die inneren Angelegenheiten der Türkei. Die Botschafter hatten in einem gemeinsamen Brief die Freilassung des seit 2017 in Untersuchungshaft sitzenden Kulturförderers und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala gefordert. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müsste Kavala eigentlich längst frei sein.
Lautes Gepolter als Ablenkungsmanöver
Erdogan hätte diese Kritik ignorieren oder es bei einer deutlichen Zurückweisung belassen können. Stattdessen schlug der türkische Präsident den Weg der Eskalation ein – nur um seine Drohung am Montag wieder zurückzunehmen. Erdogans Gebaren hat weniger mit Osman Kaval und sehr viel mit der desolaten Lage der türkischen Wirtschaft zu tun.
Inflation und Arbeitslosigkeit steigen, der Kurs der Lira befindet sich im freien Fall. Kurz vor Erdogans (un)diplomatischer Drohung bei einer Kundgebung vor Anhängern seiner Partei im türkischen Eskisehir vermeldeten Medien weltweit einen neuen historischen Tiefpunkt der türkischen Währung. Ein US-Dollar war in der vergangenen Woche nur noch 9,595 Lira wert.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EV22KOJKWVHORCGVMVVAPMOACQ.jpeg)
In Ankara demonstrieren Erdogan-Anhänger nach dessen Drohung an zehn westliche Botschafter für die Politik des türkischen Präsidenten. Die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise dürfte für die Mehrheit der türkischen Bevölkerung jedoch das wichtigere Thema sein.
© Quelle: Burhan Ozbilici/AP/dpa
Die anhaltende Wirtschaftskrise wird zu einer wachsenden Gefahr für Erdogans Macht – viel mehr, als es die Proteste von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern je vermocht haben. Der harsche Ton gegenüber Staaten, mit denen Ankara zumindest auf dem Papier eigentlich verbündet ist, ist deshalb in erster Linie eine Botschaft nach innen. Sie soll die eigene Basis besänftigen und ablenken. Die Wählerschaft von Erdogans AKP rekrutiert sich zu einem großen Teil aus jenen gesellschaftlichen Schichten, die unter Inflation und Arbeitslosigkeit besonders leiden.
Nach Botschafterstreit: Deutsche Politiker kritisieren Erdogan
Die Bundesregierung reagiert verstimmt auf die Drohung des türkischen Präsidenten Erdogan, den deutschen Botschafter und weitere Diplomaten auszuweisen.
© Quelle: AFP
Den Finanzmarkt stimmen Erdogans Drohgebärden nicht um
Drastische Schritte zur Sicherung der eigenen Macht haben Erdogans Politik der vergangenen Jahre immer wieder geprägt. Das zeigte sich etwa nach den türkischen Parlamentswahlen 2015. Die AKP verlor massiv Stimmen und konnte nicht länger allein regieren. Bevor es vier Monate später zu Neuwahlen kam, ließ die AKP-Regierung den Konflikt mit der kurdischen PKK im Südosten des Landes zu einem offenen Krieg eskalieren – in der Hoffnung, in der Wählergunst als starker Beschützer dazustehen. Das Kalkül ging auf.
Gegen die Kräfte des Finanzmarktes helfen Erdogans brutale Taktiken jedoch nicht – ganz im Gegenteil. Nach seinen Drohgebärden stürzte der Lira-Kurs weiter ab und erreicht nun den nächsten Negativrekord. In der vergangenen Woche ließ Erdogan den Leitzins entgegen der Empfehlungen von Fachleuten senken. In den letzten zweieinhalb Jahren setzte der Staatspräsident gleich drei Chefs der türkischen Notenbank vor die Tür. Vieles spricht dafür, dass die Türkei alsbald keinen Weg aus der Krise findet und der Druck der Bevölkerung auf Erdogan dadurch weiter steigt.
Deutschland, Europa und die Nato müssen sich deshalb auf weitere drastische und erratisch wirkende Handlungen des autoritär regierenden türkischen Präsidenten auf der internationalen Bühne einstellen. Und sie müssen endlich einen Weg finden, mit diesen Provokationen umzugehen, um nicht jedes Mal aufs Neue übertölpelt dazustehen. Aus diplomatischer Zurückhaltung, das haben die letzten Jahre gezeigt, kann dieser Weg nicht bestehen.