Eine Beinahekatastrophe vor dem Gipfel: der Corona-Kampf der EU
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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
© Quelle: imago images/Hans Lucas
Berlin/Brüssel. Bei einem Videogipfel mit den Chefs von sieben Impfstoffherstellern will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntagnachmittag eine bessere Zusammenarbeit im Kampf gegen die Corona-Pandemie besprechen. Doch eine diplomatische Beinahekatastrophe in der Nacht zu Samstag dürfte die Verhandlungsposition von der Leyens nicht verbessert haben.
Wegen anhaltender Probleme bei der Lieferung von Impfstoffen hatte die EU-Kommission am Freitag den Druck auf die Pharmabranche erhöht. Exporte von Corona-Impfstoffen aus der EU in Drittstaaten sollen künftig strenger kontrolliert und möglicherweise sogar untersagt werden.
Impfstofflieferungen: Der Machtkampf in Brüssel
Zu Beginn der Woche geriet die EU-Kommission im Streit mit Astrazeneca in die Defensive. Jetzt zieht Kommissionspräsidentin von der Leyen neue Saiten auf.
© Quelle: RND
Die Regelung zielt zunächst vor allem auf den britisch-schwedischen Konzern Astrazeneca, mit dem die EU-Kommission seit mehr als einer Woche einen erbitterten Streit um die Lieferung von 80 Millionen Impfdosen führt. Die Brüsseler EU-Behörde hat den Verdacht, dass in der EU hergestellte Impfdosen vertragswidrig nach Großbritannien geliefert werden könnten.
Empörung in Großbritannien
Die britische Regierung reagierte hellauf empört. Premierminister Boris Johnson sprach von „schwerer Besorgnis“, Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster sogar von einem „Akt der Feindlichkeit“.
Die britische Seite verstand die Ankündigung aus Brüssel offenbar als einen Verstoß gegen die Brexit-Abmachung, wonach es keine Grenzkontrollen an der Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsland Irland und der britischen Provinz Nordirland geben darf. Das hatte die EU jahrelang selbst gefordert, um den fragilen Frieden auf der irischen Insel zu sichern.
Erst ein Telefonat zwischen von der Leyen und Johnson am späten Freitagabend entspannte die diplomatische Krise ein wenig.
Von der Leyen twitterte in der Nacht zu Samstag: „Wir sind uns im Prinzip einig geworden, dass es keine Beschränkungen beim Export von Impfstoffen durch Unternehmen geben soll, wenn diese ihre vertraglichen Pflichten erfüllen.“
Druck auf von der Leyen
Zunächst sah es danach aus, als wäre die Krise damit beigelegt. Doch inzwischen stellte die nordirische Regierung den Brexit-Vertrag infrage. Die Regelungen für Nordirland seien nicht umsetzbar, sagte die Belfaster Regierungschefin am Samstag in einem Radiointerview. Sie werde sich bei Johnson und der irischen Regierung dafür einsetzen, das sogenannte Nordirland-Protokoll abzuschaffen, erklärte Foster.
Die Episode dürfte das Vertrauen in das Krisenmanagement der EU-Kommission weiter verschlechtern. Die Behörde der CDU-Politikerin von der Leyen steht ohnehin bereits unter erheblichem Druck. Auch deutsche Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) halten von der Leyen vor, zu schlecht mit den Pharmakonzernen verhandelt zu haben.
Andere Politiker halten es für einen schweren Fehler, auf die schleppenden Impfstofflieferungen ausgerechnet mit protektionistischen Maßnahmen zu reagieren. „Ein EU-Exportstopp für Impfstoffe wäre alles andere als weitsichtig. Es wäre unsolidarisch und kontraproduktiv. Wir sollten nicht verhindern, dass auch andere Länder Impfstoff bekommen“, sagt die europapolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Franziska Brantner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Und wir sollten Unternehmen nicht zwingen, Verträge zu brechen.“
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Die Grünen-Politikerin äußerte die Sorge, dass „andere Länder ihrerseits den Export von Zusatzstoffen verbieten könnten, die für die Impfstoffproduktion wichtig sind“. Wenn die Lieferketten zusammenbrächen, sei niemandem geholfen.
Auch der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD), zeigte sich enttäuscht. Noch vor wenigen Tagen hätten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsstaaten den Covid-Impfstoff als öffentliches Gut bezeichnet, „jetzt ist er zu einer heiß umkämpften Ware geworden“, sagte Lange. „Wir sollten nicht vergessen, dass die Europäische Kommission bis vor wenigen Wochen im Rahmen einer WTO-Initiative andere Länder aufforderte, von Exportbeschränkungen abzusehen.“
Die Grünen-Abgeordnete Brantner forderte Ursula von der Leyen auf, bei ihrem Videogipfel mit den Pharmakonzernen nicht nur über den Umgang mit Virusmutationen zu sprechen, „sondern ganz konkret über Produktionskapazitäten für Impfstoffe“. Dazu müssten die EU und die Bundesregierung „endlich umsteuern und eine Pandemiewirtschaft etablieren“.
Die ideologischen Schranken müssten fallen. Es müsse die Möglichkeit geschaffen werden, dass der Staat in Unternehmensentscheidungen eingreife, sagte Brantner: „Sonst laufen wir weiter von einem Mangel in den nächsten. Nach dem Impfstoff werden Schnelltests, Kanülen und Corona-Medikamente knapp werden. Da muss frühzeitig gegengesteuert werden.“
Ähnlich äußerte sich SPD-Mann Lange. Es müsse grundsätzlich hinterfragt werden, „ob wir die Produktion und den Verkauf von Impfstoffen nur privaten Organisationen überlassen sollten“, sagte der Europaabgeordnete.
Eine Möglichkeit, die Impfstoffproduktion auszuweiten, hat vor Kurzem EU-Ratspräsident Charles Michel skizziert. Nach Artikel 122 der EU-Verträge könnten etwa Impfstoffpatente freigegeben werden. Dann könnten neben den Patentinhabern auch andere Unternehmen die Produktion von Impfstoffen übernehmen. Dazu braucht es allerdings die Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten.